Rings um mich herum die Autos der Reichen, die Häuser der Reichen, die Blicke der Reichen. Blicke, die auf mir lagen und mich doch nicht sahen. Was sie sahen, waren Fahnen, deren Farbe ihnen nicht gefiel, Schilder, deren Beschriftung ihnen nicht gefiel und Gesichter, deren herausfordernder Ausdruck ihnen nicht gefiel. Das Gefühl, eines dieser Gesichter zu sein, hatte unleugbar etwas Befriedigendes.
Wir waren in unserem Block vielleicht 70 Genossen, während der gesamte Demonstrationszug bestimmt einige Tausend an diesem angenehm milden Februartag auf die Straße brachte. Anlass des Protests war eine Veranstaltung, bei der hohe Staatsbeamte zusammen mit Vertretern der Rüstungsindustrie unter dem Deckmantel von „Frieden und Sicherheit“ in edlem Ambiente ihr weiteres Vorgehen auf den Kriegsschauplätzen dieser Erde berieten. Geostrategische und imperialistische Interessen der einzelnen Staaten wurden aufeinander abgestimmt, die Feinde des Friedens ausgemacht und Deals vereinbart, die sicherstellen, dass es in Zukunft zumindest an Waffen bei keiner Auseinandersetzung rund um den Globus mangelt. Kurzum, es war eine perfekte Gelegenheit um auf den Zusammenhang von Profitstreben und Elend, auf die Untrennbarkeit von Krieg und Kapitalismus und schließlich auf die grenzenlose Heuchelei der aktuell Herrschenden aufmerksam zu machen. Aus diesem Grund schloss auch ich mich den Reihen der Demonstration an, welche Bayerns Landeshauptstadt an diesem Tage zumindest für wenige Stunden in einem kämpferischen Antlitz erscheinen ließ.
Wir kamen gerade an einer H&M-Filiale vorbei, als sich ein neuer Schlachtruf seinen Weg von ganz vorne bis zu unserer Reihe bahnte: „Brecht die Macht der Banken und Konzerne!“ Als einer der ersten in meiner Umgebung fiel ich den Ruf ein, die schwedische Ausbeuterkette weiterhin im Blick behaltend. Meinen Schritt etwas verlangsamend, vergaß ich für einen Moment die Wirklichkeit und stellte mir vor, es wäre ein ganz normaler Tag, ein gewöhnlicher Samstagnachmittag in Münchens Innenstadt. Mit Menschen, die auf der Suche nach einem stilgerechten Schal für ihre neue Winterjacke von einem Modegeschäft ins nächste laufen, die mit Aktentasche in der einen und Starbucks-Kaffeebecher in der anderen Hand schnellen Schrittes die Zeit zu überbrücken suchen, in der sie ihr Mobiltelefon nicht benutzen können und schließlich jenen, die genüsslich auf einem Bio-Rindfleisch-Burger von McDonalds kauend die lästige Verpackung von diesem in der Überzeugung, dass es irgendwann schon einer wegmachen muss, einfach an den Straßenrand werfen. Und mittendrin stehe ich, strecke den rechten Arm nach oben, balle meine Finger zu einer Faust und fordere lautstark, die Macht der Banken und Konzerne zu brechen. Stille. Alle Augen richten sich auf mich – verwirrte Augen, verärgerte Augen, verspottende Augen. Peinlich berührt suche ich nach einem Hauch von Unterstützung, doch fühle mich wie ein Ertrinkender in einem Meer aus Gleichgültigkeit und Unverständnis. Nach einer Weile versuche ich erneut, meine Botschaft, die keine beliebige Parole, sondern meine ehrliche Überzeugung ausdrückt, kundzutun, doch die Worte bleiben mir im Halse stecken. Auch mein Arm wird nun immer schwerer und fällt zusammen mit der längst nicht mehr zur Faust geformten Hand kraftlos nach unten. Wo ist meine Willensstärke, meine Widerstandskraft – mein Selbstbewusstsein?
Der Druck einer Handfläche auf meinem Rücken riss mich abrupt aus meinen Gedankenspielen. Mit einem verächtlichen Lächeln im Gesicht, machte mich der Genosse neben mir auf eine Filiale der Deutschen Bank aufmerksam, die sich schräg vor uns befand: „Irgendwann werden wir da nicht nur dran vorbeilaufen.“ Ich brauchte einen Moment um meine Gedanken zu sammeln, aber der notwendigen Vergesellschaftung aller Banken selbstverständlich zustimmend, antwortete ich ihm schließlich: „Irgendwann“.
Vor dem Geldhaus standen zwei Personen, offenbar Angestellte oder Geschäftspartner, eine Frau im schwarzen Blazer und ein Mann im grauen Anzug. Regelmäßig an einer Zigarette ziehend, waren die beiden in eine Unterhaltung vertieft und beachteten ihre Umgebung offensichtlich kaum. Mir der momentanen Stille unseres Zuges plötzlich bewusstwerdend, suchte ich kurz nach einer passenden Parole und hob dann meine Stimme, wobei die Worte den Hals mühelos durchquerten: „Deutsche Banken, deutsches Geld – morden mit in aller Welt!“ Pause. Erneut holte ich Luft, doch noch bevor die Worte meinen Mund verließen, ertönte es bereits wieder von Neuem: „Deutsche Banken, deutsches Geld – morden mit in aller Welt!“.
Die beiden Raucher unterbrachen ihre Unterhaltung und guckten in meine Richtung. Ihre Augen hatten einen von jenen Ausdrücken, die ich bereits aus meinem merkwürdigen Tagtraum kurz zuvor kannte, doch fanden sie in diesem Fall kein bestimmtes Ziel, sondern wanderten wahllos durch die Reihen unseres Protestzuges. Schließlich warfen sie sich gegenseitig noch einen kurzen Blick zu, drückten dann ihre nicht mal zur Hälfte gerauchten Zigaretten aus und gingen zurück ins Bankgebäude. Ich lächelte unvermittelt – mir wurde wieder bewusst, wo mein Selbstbewusstsein war.
Von Daniel Polzin, 19. Feb. 2016