Literaturkritik: “Der Spieler” oder Das Bewusstsein eines Knechts

,

Der Spieler, Aleksej Iwanowitsch, ist ein Exemplar des kennzeichnenden Merkmals der Figuren Dostojewski’s, welches den Schlüssel zum Kanon seiner Romane darstellt. Daher ist „der Spieler“ für eine ganz bestimmten Typizität exemplarisch: Wie „der Spieler“, so auch die Protagonisten anderer Romane von Dostojewski, machen sie sich allesamt vor ihrem Schicksal – „der Spieler“ gar in grotesker, komischer Weise – lächerlich, um es mit leidenschaftlicher Verachtung herauszufordern, gleichwohl sie letztlich als Narren verstummen, sobald erkenntlich wird, dass nicht Sie über ihr Schicksal, sondern ihr Schicksal über sie lacht, d.h. sie zermalmt. Darum lässt sich kurzerhand urteilen: alle (Haupt-) Figuren sind aufstrebende und doch letztlich gescheiterte, ja annullierte Existenzen. Darin liegt die brisante Tragödie in Dostojewskis Figuren, nämlich dass sie ein Recht ohne rechtlicher, sondern auf moralischer Grundlage erheben, die wiederum an Voraussetzungen geknüpft ist, welche nicht anderswohin als auf die Gesellschaft seiner Figuren verweisen.

Eben durch die unnachgiebige Provokation der Protagonisten eröffnet sich das soziale Fenster, das allmählich größer wird und das den Romanen Dostojewskis eine soziale Dimension implementiert, sodass sie mehr oder minder partiell Sozialkritik darstellen, aber zugleich auch dreidimensional werden. Ein Schriftsteller, der sich diesen Rahmen als einen für seine Romane aneignet, der schreibt – solange Ungleichheit unter den Menschen, die das Grundübel aller Ungerechtigkeit und Gewalt ist, nicht aufgehoben wird – notwendigerweise über eine ganz bestimmte Klasse von Menschen: vom gemeinen, niederen, pöbelhaften, diebischen, vom Elend zur Notwendigkeit getriebenen und von der Notwendigkeit zur Unterwerfung gezwungenem, arbeitendem Menschen, denen er, der Schriftsteller, sich als Advocatus Diaboli im Kampf gegen die herrschenden, geheimen Mächte verdingt – daher das Dunkle, Unfassbare, Sündhafte, Amoralische und Überraschende, Faszinierende, kurz die alle Elemente überstürmende Kraft, die den Bund aller Elemente in seinen Romanen zu zersprengen droht. Die Romane Dostojewskis umfassen die Fatalität totaler Auflehnung des Unterdrückten, als eine Person, die in ihrer individueller Rolle verharrt.

Das Szenario ist runter gebrochen folgendes: Aleksej Iwanowitsch, Hauslehrer in einer russischen aristokratischen Familie, findet auf begleitender Durchreise mit der Familie im deutschen Roulettenburg die Satisfaktion am Roulettetisch, die ihm Selbsterkenntnis ermöglicht. Gleichzeitig steckt die Familie in Geldnöten, verschuldet sich, macht sich abhängig von ausländischer Aristokratie und erhofft ihren Befreiungsschlag durch das reiche Erbe einer eigenwilligen Großtante zu erlangen, wobei sämtliche Familienmitglieder ihren nächsten vor das Messer laufen sehen wollen, damit ihr persönliches Erbteil sich vergrößere. Kurz: unser Hauslehrer befindet sich inmitten der Verdorben- und Verworfenheit der Aristokratie.

Wer „Den Spieler“ als die literarische Inkarnation psychologischer Abgründe wie Gewinn- und Verschwendungssucht, Habgier oder Übermut begreift, der hat vom „Spieler“, gleichwohl er ein kleineres Werk Dostojewskis ist, und die Anatomie des Romans nichts verstanden. Dadurch beweist man lediglich seine Befangenheit in Vorurteilen, die sich für gewöhnlich als die billige Kolportage des Urteils einer genügsamen, bequemen, segmentierenden Intelligenz entlarvt; hier nämlich, dass Dostojewski der Meister psychologischer Literatur sei. Allemal, auch „der Spieler“ ist Literatur psychologischer Inspektionen! Und Aleksej Iwanowitsch ist durchdrungen, übermannt von Selbstsucht, von diesem psychischem Keil! Doch die Selbstsucht Aleksej Iwanowitsch’s ist reine, psychologische Affektion seiner Existenz. Sie ist der wesentliche Ausdruck einer mit sich im pathologischen Verhältnis stehenden Existenz. Sie ist der psychologische Moment eines sich aus seiner Individualität emporhebenden Individuums zu einem hierarchisch auf höherer Position stehendem Du als Ich: Aleksej Iwanowitsch ist selbstsüchtig nicht der Selbstsucht, sondern um der totalen Anerkennung seiner selbst, d.h. seiner Würde willen. „Ich will nur die kränkende Voraussetzung widerlegen, dass ich mich unter der Vormundschaft einer Person befinde, die Macht über meinen freien Willen besitzt.“, sagt Aleksej Iwanowitsch an einer vermeintlich unbedeutenden Stelle zu Beginn und bekundet damit nur, dass er Bewusstsein von der Freiheit seines Willens hat, aber zugleich seine Willensfreiheit in Ohnmacht vor der Macht „der Vormundschaft“ kollabiert. Dadurch geht eine persönliche Kränkung hervor. Die „Vormundschaft“, die an jener Stelle kontextual in einem russischen General, d.h. in der russischen Aristokratie und – wenn man genau liest – in einem deutschen Baron, d.h. im deutschen Adel personifiziert ist, ist das Schicksal an sich, die geheime Macht über ihn gegen das sich Aleksej Iwanowitsch auflehnt. Die „Vormundschaft“ ist im Grunde genommen nichts anderes als das Privilegium, das Aleksej Iwanowitsch nicht zu beseitigen trachtet, sondern nach dem Genuss desselben giert. Würde er sich für das Erstere entscheiden, so würde „der Spieler“ – das Unterlassen desselben, charakteristisch für die Protagonisten Dostojewski’s – eine politische Figur werden, der die soziale Frage nicht nur abstreift, um aus ihr persönliches Kapital zu schlagen, sondern sich als leidendes Individuum überwindet, um die soziale Frage leidenschaftlich auf dem Boden der Verhältnisse zu artikulieren, d.h. um sie umzuwerfen, um zu revolutionieren! Doch so erleidet „der Spieler“ die Tragödie eines Individuums, das die soziale Frage aus dem Standpunkt des Individualismus und nicht aus dem Standpunkt des Individuums in seiner sozialen Rolle stellt. „Der Spieler“ kommt nicht über seine Freiheit hinaus, um wahrhaft frei zu werden. Das Leiden wird ihm zur Leidenschaft, aber die Leidenschaft ihm nicht zur Weisheit. (Doch Literatur braucht nicht weise zu sein. Wir sind bereits hoch zufrieden, wenn sie klug ist.)

Der Ausgangspunkt „des Spielers“ wirft „den Spieler“ auf seinen Ausgangspunkt zurück. Der Moment des zurück gewandten Umschlags zum Ausgangspunkt „des Spielers“ – auch hier, aller (Haupt-)Figuren Dostojewskis – ist der Moment des Verlustes, der Tragödie, des individuellen Realismus, des intellektuellen Scheiterns. Diese Rückwendung macht den „Spieler“ existentiell im Sinne einer Radikalität, mit der existentielle – man könnte auch ‚philosophische‘ sagen – Fragen ihre Antwort bereits in sich tragen. Man braucht solche Fragen nur genügend auszureizen, was „der Spieler“ tut, um die Antwort in ihr hervorgehen zu sehen. Daher treibt den „Spieler“ konsequenteste Unzufriedenheit und Verachtung, zuweilen Selbstleugnung, um auf höherer Stufe anerkannt zu werden, gleichwohl der unverrückbare Realismus, das persönliche Schicksal alle Sehnsüchte und Wünsche zerreißt. Die Dissonanz zwischen Wille und Sein eröffnet den Abgrund, in dem psychologische Delirien, Reflexionen, Fragen entstehen, die Dostojewski in meisterhafter weise, mit beeindruckender Vollendung ausführt. >Vollendung<, weil er bis an die äußerste Konsequenz auf individueller Ebene geht, ohne diese zu überwinden, da er sonst selbige Konsequenz auf sozialer Ebene durchführen müsste. Vielmehr tangiert er die soziale Ebene; findet dort den Nährboden der gemeinsamen Tragödie seiner Figuren. Das macht dem moralischen Leser – wobei Moralisten gänzlich die am wenigsten geeigneten Leser von Literatur sind – Laster und Sünden zugänglich, da sie im Herz des Lesers gerechtfertigt und begründet zu sein beginnen; praktisch, aus Sicht des moralischen Lesers, bedeutet dies nichts weniger als das er (zumindest anfänglich) entmoralisiert wird. Und dabei ist das, was „der Spieler“ sucht, ob in der selbstquälerischen Liebe zu Pauline Alexandrowna, im virtuosen Spiel am Roulettetisch oder in seiner „tatarischen“ Aversion gegen die Bourgeoise, die sich im servilen und intriganten Franzosen de Grieux repräsentiert, Glückseligkeit, als das Zusammenfallen von Wesen und Existenz. Man kann festhalten: „Der Spieler“ und andere Protagonisten Dostojewski suchen auf lächerlicher weise Glückseligkeit.

Somit lässt sich „der Spieler“ mit folgendem Bild zusammenfassen.

Ein Diener zum König: „Eure Erlaucht und Exzellenz, auf dem Hofe stolziert seit Tagen ein Narr mit dem Ausruf ‚Ich, ein Mensch, bin König, die Welt ist mein!‘ Möchte eure Erlaucht und Exzellenz die unerhörte Anmaßung beseitigt sehen?“

Der König den Diener nicht eines Blickes würdigend und sich im Mahl schmausend: „Nein, er ist mein Knecht, er unterhält mich!“

 

Von Mesut Bayraktar, 1. Okt’ 2015

Weitere Rezensionen auf Nous:

Fjodor Dostojewskis “Tagebuch eine Schriftstellers” oder Ideologie eines Narren

Robert Musils “Der Mann ohne Eigenschaften” oder Großbürgerliche Infamie

Erich Maria Remarques “Arc de Triomphe” oder Zeit zu warten und Zeit zu kämpfen

%d Bloggern gefällt das: