Zur Flüchtlingskatastrophe: Wegmarken für linke Politik

JordanienFlüchtlingslager
Flüchtlingslager in Jordanien

Das Bürgertum ist im philantropischen Rausch der ersten Begegnung. Die Rechten sind im Brandfieber der ersten Begegnung. Politik und Staat sind im Schock der ersten Begegnung. Und die langjährigen Aktivisten, Sozialisten, Warner der Republik bleiben trotz ihrer ungewürdigten Kassandrarufe  in ihrer langmütigen Disziplin bei der ersten Begegnung.

Sprechen wir die Wahrheit aus und sprechen wir kurz vom philantropischen Bürgertum, das annimmt, mit dem Verteilen von Süßigkeiten ist das Elend der Flüchtlinge beendigt: sobald die miserable Situation der Flüchtlinge sich erst systematisiert hat, d.h. normalisiert hat, sobald wird jede Nachricht über ihr Elend in die Sammlung der Normalitäten des faden und konsumträchtigen Alltags des Bürgertums aufgesogen sein – und dieser Alltag ist gedankenlos. So wird das Elend von Menschen zum menschlichen Elend des Bürgertums. Es wird die Zeitung aufschlagen, Bilder in der Röhre sehen, gemütlich seufzen, dann und wann zustimmend bei rechten Hetzparolen nicken, am Cola nippen und umschlagen oder umschalten, bis früher oder später die wachsende Besorgnis zum Instrument der politischen Rechte (mit den Konservativen beginnend hin zur extremen Rechten) wird – wie das jüngst mit der Griechenlandkrise, der IS-Barbarei, der Jasminrevolution, den Gezi-Protesten in der Türkei, Gaza-Krieg 2014 etc. etc. geschah; erst kurzlebige philantropische Verbundenheit mit den Schwachen, dann Schweigen, dann – und hier bricht es immer in zwei Richtungen – Apathie oder Rechtsruck. Der Staat wird mit seinen mächtigsten Apparaten – Bürokratie und Verwaltung – die Situation abstrahieren bis alles Menschliche aus einer menschlichen Katastrophe ausgetilgt ist. Denn für die Kälte von Bürokratie und Verwaltung ist alles Menschliche eine Befangenheit, und Befangenheit gehört nicht zur weisungsausführenden Amtsverwaltung. Dann wird sie dafür sorgen, dass das Elend der Flüchtlinge aus der praktischen Wirklichkeit der Bürgerinnen und Bürger gebannt wird. Dann wird allmählich der Sachzwang des Gesetzes menschliche Fragen zu sachlichen Fragen einengen. Und wenn der Stimmungsbarometer wieder gegen Flüchtlinge umschlägt, dann werden die sogenannten Parteien der sogenannten Mitte (führende Sozialdemokraten sprechen gar von “arbeitender Mitte”?!) vor dem Hintergrund ihrer parlamentarisch-demokratischen Stimmenfangpolitik wieder auf repressive Flüchtlingspolitik setzen; so wie sie jetzt – im Schock – die “Mitte” massierend philantropische Flüchtlingspolitik alsbald zu praktizieren bekunden und genauso wie sie wiederum davor repressive Flüchtlingspolitik umzusetzen praktiziert haben (Einstufung sicherer Herkunftsländer, “man könne nicht alle aufnehmen” etc. etc.), als patriotische Europäer ihr Widerwillen gegen die Islamisierung des Abendlandes skandierten. Jetzt werden die bundesrepublikanischen Institutionen, Auffangsysteme und die philantropische Willkommenskultur gelobt, in einem halben Jahr werden die ersten beiden intensiver walten und das Letzte nur eine Erinnerung an eine spätsommerliche Heiterkeit sein, die den Fetisch des Warenkonsums kurzweilig unterbrochen hatte, und nach drei Jahren walten die ersten beiden beständig und vertiefter weiter, wo das letzte nur noch mittels Fotoalben und Selfies ins Bewusstsein gerufen werden kann. Die langmütige Disziplin aller Kassandras wird bleiben, der blinde Hass und die Zahl der Rechten wachsen. Armes Deutschland!

Doch was bedeutet der gegenwärtige Rausch der Bevölkerung und der Schock von Staat für linke Politik? Konkreter: was kann linke Politik daraus machen?

Das zu Beginn der Woche teilweise erschienene Positionspapier der Partei Die LINKE von Wagenknecht und Bartsch ist im Grundsatz völlig richtig. Es formuliert aus, was der Titel fordert: nämlich Fluchtursachen bekämpfen – nicht Flüchtlinge!11952022_1152493651434697_5034290780833384239_n Der politische Realismus in der Bundesrepublik macht das Papier jedoch im Hinblick auf seine Umsetzung zu einer Sammlung von Wörtern, die bedeutungslos sind. Im politischen Kampf sind Wörter nur dann von relevanter Bedeutung, wenn ihnen eine Tat folgt. Dieses Attribut haben aber regelmäßig Akteure der Macht. Da linke Politik nicht an der Macht ist, muss der Schlüssel umgekehrt gelesen werden: im politischen Kampf folgen Wörter von relevanter Bedeutung entsprechenden Taten. Also, was auf sozialer Ebene tun, um die Eckpunkte des Positionspapiers politisch umsetzungsfähig zu machen?

Beachtenswert ist doch, dass die Flüchtlinge nunmehr eine materielle Macht geworden sind, die normative Reglements, wie das europäische Asylsystem auf der Grundlage der Dublin-Verordnung, auf- und durchbricht, weil es ein System der Bedrängung und Verachtung repräsentiert, die die Menschen nicht mehr zu ertragen und zu dulden bereit sind. Das Verhalten der Flüchtlinge, bspw. der Marsch aus Budapest gen Wien, ist ein humanistischer Protest. Es zeigt die normative Kraft des Faktischen – Auflehnung – gegen die faktische Kraft des Normativen – Unterdrückung. Es zeigt aber auch, dass die Menschen aus verschiedenen Teilen der Erde, schließlich sind laut UN-Flüchtlingshilfswerk ca. 50 Mio. Menschen auf der Flucht, die Ungerechtigkeit politisch zu spüren beginnen, die ungerechte Verteilung von Reichtum zugunsten ein paar Weniger nicht hinnehmen wollen, imperiale Kriege der modernen Industrieländer um den Monopol bestimmter Ressourcen auf Kosten von Heimat nicht mehr akzeptieren können, kurz, sich auflehnen müssen, um ihren Hunger zu bekämpfen. Es heißt: genug ist genug, wenn man dem Menschen sein Brot frisst. Das beginnen die Flüchtlinge zu begreifen. Wie Budapest gezeigt hat, sind sie zur Organisation fähig, d.h. sie verstehen Politik und sind mehr oder minder politisch. Für linke Politik bedeutet dies, will sie nicht, dass kommende Flüchtlinge ihre Merkel-Plakate auch in der Bundesrepublik in die Höhe heben, unwissend, dass konkrete Belange der Flüchtlinge Merkel ebenso gleichgültig sind, wie die konkreten Belange der Arbeiterinnen und Arbeiter hierzulande, politische Aufklärung zu betreiben. Selbstverständlich ist das Wichtigste zunächst existentielle Bedürfnisse von ankommenden Flüchtlingen abzusichern; humanitäre Arbeit zu leisten, um zu entlasten. Aber anschließend muss eine politische Aufklärung stattfinden, die verhilft, dass sowohl die Flüchtlinge ihre soziale Rolle als Individuum in der Bundesrepublik erfahren als auch die Helfer des Bürgertums Möglichkeiten sehen dauerhaft Solidarität zu zeigen, weil sie die Flüchtlingsursachen nachzuvollziehen beginnen. Andernfalls werden nach entsprechendem Verstreichen der Zeit die Flüchtlinge wie die (unpolitischen) Helfer jeweils auf sich selbst zurückgeworfen sein. Sie fallen dann wieder als Einzelner auf ihre Einzelheit, d.h. Halbheit zurück – resignative Apathie und, wie die Geschichte bei jeder Untätigkeit der Linken beweist, Rechtsruck folgt.

Die Lage zeigt aber noch etwas: auf den Staat, in seinen bestehenden Institutionen und parteilichen Repräsentation von CDU/CSU, SPD und flankiert von Bündnis 90/Die Grünen, ist kein Verlass. Sie hat hat Anzeichen gesehen, aber – wie unter Führung Merkels üblich – dieselben ausgesetzt. Wo der Staat Demokratie als eine Macht von oben versteht, zeigt die Bevölkerung, dass Demokratie eine Macht von unten, eine Bewegung ist. Die initiativen und organisierten Selbsthilfemaßnahmen für Flüchtlinge zeigen Ansätze demokratischer Formen, die sich zu einem Demokratisierungsprozess automatisieren können, an dem alle Beteiligten Anteil haben. Solidarisierung ist die erste politische Tat eines unpolitischen Menschen. Linke Politik muss – weg von etatistischer Befangenheit wie “Hilfe” durch Institutionen, Ämter, Behörden, Stadträte etc. – als politischer Akteur eine soziale Rolle einnehmen und sich, die Flüchtlinge und alle Helfer in diesen Demokratisierungsprozess dauerhaft einbinden – durch Bildungs-/Aufklärungsarbeit, Demonstrationen, Komitees, Räte, Koordinierungszirkel, politischer Subversion wie historisch in der Arbeiterbewegung beheimatet usw. Denn erst dann ist eine Politisierung von Flüchtlingen und (unpolitischen) Helfern möglich. Solidarität politisiert. Sie muss aber organisiert und koordiniert werden. Sie muss alle Betroffene miteinbeziehen, was mit rein parlamentarischer Arbeit unmöglich ist. Die Idealität vom Dualismus zwischen politischer Partei und Bevölkerung ist im Grundgesetz, also in der verfassungsmäßigen Ordnung (bspw. freies Mandat) angelegt. Die einen brauchen Stimmen, die anderen Führung. Dadurch fällt Stimme und Führung auseinander. Eine permanente Kommunikation zwischen politischer Partei und Bevölkerung ist unmöglich bzw. verklärt, da die politische Partei im Gewand des Staates der Bevölkerung gegenüber steht, wie die Bevölkerung der politischen Partei gegenüber steht – zwischen beiden eine Scheidewand. Statt vereinigt etwas zu wollen, wollen die einen etwas von den anderen, und umgekehrt, sodass ein permanenter Mangelzustand auf beiden Seiten herrscht. Dieser Dualismus gehört ersetzt durch die Dialektik beider, d.h. durch das Zusammenfallen von Stimme und Führung. Das ist vielleicht die wichtigste Herausforderung linker Politik, um ein mächtiger Akteur im politischen Kampf zu werden.

Zurück zur Flüchtlingskatastrophe: Vergessen wir nicht, dass andernorts in Europa Flüchtlinge wie Vieh behandelt werden – Täglich geschlagen, täglich gequält, täglich entwürdigt. Diese Zustände können nolens volens ebenso in Deutschland in ebenso schneller Zeit herrschen. Hier brennen wöchentlich Flüchtlingsheime, was andernorts in Europa noch nicht üblich ist. Mit der steigenden Zahl der Flüchtlinge steigt die materielle Macht der Flüchtlinge, die das bestehende Asylsystem, das unmittelbar mit der bestehenden Gesellschaftsordnung verbunden ist, von innen aufdehnt und aufzerrt. Diese materielle Macht kann, wenn sie politisch wird, die bestehenden Verhältnisse in Frage stellen und so Raum für Veränderung schaffen. Aber die Infragestellung muss artikuliert werden. Sonst läuft die materielle Macht auf leeren Tretmühlen bis sie ermüdet. Warum linke Politik verantwortlich ist? Wegen dem Rot auf ihrer Fahne: Weil alle Flüchtlinge, die dauerhaft in der Bundesrepublik bleiben dürfen, nachdem ein Dutzend abgeschoben wurden, nach fünf Jahren ebenso lohnabhängige Arbeiterinnen und Arbeiter werden wie die heutigen arbeitslosen, vorm Arbeitsamt anstehenden, bei der Zeitarbeit beschäftigten, in unbezahlten Praktika ausharrenden, im Niedriglohnsektor getrimmten, permanent gespaltenen und am unsicheren Arbeitsplatz drangsalierten lohnabhängigen Arbeiterinnen und Arbeiter der Bundesrepublik. (Kürzlich hat bereit die sozialdemokratische Arbeitsministerin Nahles selbstherrlich erklärt, dass künftig die Arbeitslosenzahlen, die wohlgemerkt amtlich Mini-Jobber, Aufstocker und über 58 Jährige nicht wiedergeben, “selbstverständlich” mit der Zunahme der Flüchtlinge steigen wird.) Und das Überangebot von Arbeitskräften wird dann Löhne drücken, Arbeitszeit verlängern, Arbeitsbedingungen verschlechtern, was ohnehin gegenwärtig durch die Kapitalseite geschieht – “Flexibilisierung” und Neoliberalismus.  Die Flüchtlinge erwartet die Gegenwart der Arbeiterinnen und Arbeiter. Diese soziale Rolle als Individuum – das gemeinsame Interesse – muss linke Politik definieren, zum einen die Notwendigkeit der Solidarität der Arbeiterinnen und Arbeiter mit den Flüchtlingen und zum anderen die Notwendigkeit der Solidarität der Flüchtlinge mit den Arbeiterinnen und Arbeiter formulieren. Denn der Stand von Arbeitslohn, Arbeitszeit und Arbeitsbedingungen sind Folge harter Arbeitskämpfe, also sozialer Konflikte und nicht objektiver ökonomischer Notwendigkeiten. (Bspw. erlaubt der industrielle Stand der Produktivität in der Bundesrepublik die Verkürzung der Arbeitszeit auf täglich 5-6 Stunden bei vollem Lohnausgleich und bei gleichzeitiger Beschäftigung aller jetzt Arbeitslosen.) An den sozialen Konflikten werden dann auch die heutigen Flüchtlinge teilnehmen müssen.

Abschließend muss linke Politik klar stellen, will man nicht, dass es verfristet und Aufwind für die Rechte wird, dass es kein Flüchtlingsproblem gibt, was die Flüchtlingskatastrophe anheizt, sondern dass sie – die humanitäre Katastrophe – das Problem des Kapitalismus ist. Alle Kassandras mahnen seit Jahren über die katastrophalen Folgen von Rüstungsexporten, übermäßiger Exportwirtschaft, Kriegsbeteiligung- wie interventionen, EU-Abschottungspolitik, Freihandel, die keine Subsistenzwirtschaft bei u.a. der Nahrungsproduktion der industrieschwachen Länder zulässt, Konkurrenz in allen Lebenssphären von Mensch, Gesellschaft und Staat an. Dass Flüchtlinge nunmehr in Massen ihre Rechte gegen die Vermögenden einfordern, ist keine Überraschung. Sie ist der Ausdruck einer Kausalkette, die immer unumstößlicher wird, obwohl so oft mit Worten darauf verwiesen wurde. Die Menschen dulden nicht mehr die miserablen Bedingungen, unter denen sie verelenden sollen, wo einige Wenige in allem schmausen und alle anderen um das Wenige streiten, kämpfen, konkurrieren. (In Deutschland: Reichste 7,5 % haben 57,9% Anteil am gesamten Vermögen, Reichste 10 % haben 63,7 % Anteil am gesamten Vermögen.) Die Flüchtlinge – daher die Ausdifferenzierung von sogenannten Wirtschaftsflüchtlingen substanzlos – bringen zum Ausdruck, dass das Verbrechen, das hinter jedem großen Vermögen steht, irgendwann abgegolten werden muss. Linke Politik muss diese Abgeltung forcieren und die Flüchtlingskatastrophe ausschließlich im Lichte seiner wahren Ursachen, nämlich der Umverteilungskämpfe, betrachten.

Denkt man sich nun die Folgen der ökologischen Ausbeutung der Erde hinzu, die sich noch in zyklischen Symptomen zeigt, aber bei gleichbleibender Tendenz in ein permanenten Zustand wachsen wird, wird man eine Ahnung haben, wie viele Menschen in Zukunft die Flucht vor unfruchtbaren Böden ergreifen werden. Der Hunger wird sie treiben, und Hunger rechtfertigt alles.

Dann muss linke Politik bereit sein und den Umverteilungskampf zwischen Besitzenden und Besitzlosen im Namen der Besitzlosen, worunter auch die Flüchtlinge fallen, führen, der eine neue, fortschrittliche, humane und soziale Gesellschaftsform verlangen wird.

Schließlich geschieht gegenwärtig – in regressiver und sehr radikaler Form – nichts anderes: die Umverteilung der Mehrarbeit der Arbeiterinnen und Arbeiter ins Portfolio der schmausenden Reichen.

Denn! (Wie im Abschluss meiner letzten Schrift zur Flüchtlingskatastrophe) Der Mensch ist erst wirklich tot, wenn niemand mehr an ihn denkt. [Bertold Brecht]

Von Mesut Bayraktar

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