Mit den Büchern Hermann Hesses hat man es immer auf zweifacher Weise zu tun, sucht man in ihnen eine Wahrheit: Zum einen sind sie in ihrer sprachlichen Virtuosität und malerischen Fülle das imposante, wunderbare Kompositionsstück erquicklicher Frische, lebhaften Geistes und schöner Dichtung. Dieser Aspekt macht uns Hesse zu einem literarischen Zauberer, obzwar eben dieses, so muss man es nennen, Hess‘sche Attribut die Gefahr der Zerstreuung erzeugt, die uns weniger sehen lässt, als vielmehr das nach außen hin umsichtig stehende und nach Wahrheit trachtendende Auge aus seinem Platze reißt und nach innen kehrt, um in seiner Innerlichkeit zu erblinden. Das ist der literarische Trick wahrheitsloser, leerer Literatur, welche sich den Schein von Größe gibt, aber letztlich reflexive Selbstbeschauung erzeugt, um kontemplative Selbstauflösung zu erwirken. Gemeinhin empfindet der wahrheitslose, leere, einsame Leser in diesen Momenten der Vergessenheit Schönheit. Möchte man erfahren, was eben jene Schönheit ist und was sie bedingt (denn Schönheit ist durchaus ein legitimes Empfinden während und nach der Lektüre!), so erfährt man lavierende und verträumte Rechenschaft, in etwa dahingehend, dass schön, weil eben schön. Damit wäre nichts hinzugewonnen. Im Gegenteil: der Literatur mangelt es dann an Substanz und dem substanzlosen Leser, der dies nicht erkennt, an Charakter. Dann wäre die Literatur buchstäblich verloren. Es wäre doch schade, gar unwürdig um die Literatur, würde sie an dieser Stelle stehenbleiben und um des Willens der selbtstauflösenden Selbstbeschauung geschaffen werden.
Kunst, worunter selbstverständlich auch die Literatur fällt, ist wahr-haft, wenn sie denkt, wenn sie also denkende Kunst, und nicht bloß anschauende Kunst ist. Das ist, was wir geistreiche, atmende, organische, lebende Kunst nennen, denn eben diese macht uns (zu) denken, sie kommuniziert, man spürt ihren Puls dadurch, dass das eigene Herze zügiger pulsiert, man hört das leise, schüchterne Atmen der Kunst.
Um auf die andere Seite der Feder Hesse’s zu kommen: Zum anderen fragt man nach Abschluss der Bücher von Hesse, vermag man durch die verklärenden Zauberwolken hindurch das Licht aufklärender Sonne sehen, was nun die Kernwahrheit dieses oder jenes Werkes seiner Feder ist. Die Kernwahrheit des literarischen Wortes in sein Wort zu artikulieren, ist letztlich ja doch die Intention und der Wunsch des Schriftstellers; warum sonst schreibt ein Schriftsteller, ein wahrhafter Schriftsteller Bücher, denen er eine Wahrhaftigkeit einzuhauchen versucht? Bei Hesse mag man zuweilen aufgrund seines musikalischen Stils, welcher die Eigentümlichkeit der Musik auf seine Literatur transferiert, nämlich den schwingenden Ton, der sich im steten Wandel in jedwede Form zu verwandeln hindrängt, Unzulänglichkeiten spüren, wenn man seine schwingenden Worte in Wahrheiten zu artikulieren versucht. Bei einigen Werken liegt diese Unzulänglichkeit partiell auch vor. Dennoch muss man als Hesse-Leser konstatieren, dass die Werke Hesse‘s über viele grund-menschliche Wahrheiten verfügen; so auch in sehr klarer und unmissverständlicher Weise bei seiner Erzählung „Unterm Rad“.
Vor dem Hintergrund autobiographischer Erfahrungen Hesses, begleiten wir den jugendlichen, talentierten Hans Giebenrath auf seinem Werden zum Sein, seine Persönlichkeitsbildung und Charakterentfaltung, seine Selbstvergewisserung, sein Ich. Früh steht fest, dass das Wesen Hans Giebenraths von im Grunde zarten, löblichen Wogen getragen und von selbstdenkender Zurückhaltung und ästhetischem Sinn durchdrungen ist. Trotz zaghafter Annährung hin zur Seite seiner Umwelt vermag Hans Giebenrath (wie soll es auch anders im jugendlichen Alter sein!) seiner sozialen Umwelt nicht tastend zu begegnen; und ihr zu trotzen, fehlt ihm die Beharrlichkeit der Auflehnung. Vielmehr ist er ihr unerbittlich ausgesetzt, wie der Wurm auf dem Asphalt dem Vogel in der Luft. Er macht, was von ihm zu machen verlangt wird, und verlangt, was von ihm erwartet wird. Seine ganze Freiheit fußt auf und steht unter dem Vorbehalt der Einwilligung Dritter, auf der Heteronomie. Er ist die heteronome Freiheit; die eingewilligte Freiheit und nicht die eigenwillige Freiheit. Ihm fehlt die Autonomie, zum einen weil er sich selbst noch in dem Stadium der Selbstbildung befindet und zum anderen weil dieselbe verdrängt wird durch die Fremdbildung. Anders formuliert: er ist ein Knecht im Kerker. Seine ganze charakterliche Halbheit verweist auf die asoziale Sozialität, in dessen Kaskade er zerrissen wird, wie ein Stück weißes Papier, das allseitig mit fremder Feder verunstaltet und allmählich von allen Seiten gezogen wird, sodass es in ebenso viele unzählige Stücke zerreißt, wie daran gezerrt wurde, und am Ende nichts übrig bleibt, außer Verwüstung und Zerstörung.
Die Erzählung weist dahingehend Parallelen mit der Erzählung Kafkas „Die Verwandlung“ auf, wobei freilich neben einigen weiteren Punkten ein bezeichnender Unterschied besteht: das nämlich Hans Giebenrath an der Obrigkeit seiner Jugendlichkeit leidet und das Leid Gregor Samsas die soziale Pflicht ist. Und dennoch bindet wiederum eines, nämlich, dass sie jeweils nicht um die konkrete Gestalt ihres Leides wissen; sie verleiden es als Unwissende. Andernfalls, also wenn sie um ihr Leid wüssten, es kennen würden, so würde ihr Leid zur Leidenschaft werden; sie würden sich gegen ihr Leid leidenschaftlich wehren. Dann wären sie nicht leidende Figuren, sondern leidenschaftliche Figuren. Denn wo liegt der Unterschied zwischen Leid und Leidenschaft? Leidenschaft ist das sich bewusst gewordene Leid. Doch beide sind bewusste Schlafwandler. Sie spüren nur, dass etwas sie bedrückt und bedrängt und unterdrückt, aber sie kennen ihr Leid nicht. Nichtsdestotrotz lässt sich Gregor Samsa als das Erwachsensein des Hans Giebenraths begreifen. Wesentlich für beide Figuren ist die soziale Determinierung der entindividualisierten Individualität. (Weitere Ausführungen gingen jetzt zu weit. Doch der Schnittpunkt ist evident. Hat Max Brod, Freund und Herausgeber Kafkas, nicht gesagt: „Kafka las Hesse mit Begeisterung.“?)
Die einzige soziale Sozialität, also die soziale, wahrhaftige Anerkennung der menschlichen Individualität, die Hans Giebenrath neben einer in Sehnsucht mündenden Freundschaft erfährt, ist die in Folge seines sozialen Versagens bedingte soziale Begegnung mit der Jugend und des Enthusiasmus der Arbeiterbewegung, den Lehrlingen und Gesellen; auch wenn die Dauerhaftigkeit dieses heiteren Sinnes dem Hans Giebenrath verwehrt bleibt, was weder seinem noch dem Verantwortungsbereich seiner neuen, ihm lieb werdenden Freunden zufällt.
Die Klage des Menschlichen und Humanen, die keinen Verlust an Aktualität leidet – ist doch die heutige Jugend wie ein Haufen Kanalratten im Kanalrad vom Leistungsprinzip getrimmt und unterm Konkurrenzprinzip bedrängt – richtet sich an den Erziehungsritus obrigkeitlichem Philistertums. Insofern ist die Erzählung ein Protest der Menschlichkeit an die Unmenschlichkeit jener Normalität, die Normen schafft, welche der Jugend ihre Humanität, d.h. ihre Inspiration, ihr Herz und ihr Geist raubt, damit sie normal im Sinne eines allgemeinen Konformismus werde, der jede Ver-rücktheit und jede Anormalität, jede Eigentümlichkeit und jedes Genie, jedes Anders-Sein und jedes Anders-Sein-Wollen, kurz jede wirklich menschliche Individualität und unabhängige, freie Bildung des Charakters aus sich selbst heraus erstickt und tötet. Schauen wir den eifrigen Gehorsam und zugleich phlegmatischen Konservatismus (ein abnormaler und doch trefflicher Begriff in Bezug auf die Apathie der Jugend) der heutigen Jugend an, so stellen wir hinsichtlich der Erzählung nach heutiger Leseart fest: Hans Giebenrath ist das leuchtende, unbequeme Mahnmal einer sich in Leistung und Konkurrenz verlierenden Jugend, die unter der Scham ihrer Vergewaltigung und unter der egoistischen Leere ihres Ehrgeizes leidet!
Darum steht jeder Jugendliche und Heranwachsende in der Pflicht, jene Erzählung zu lesen; schon aus der Bewahrung der Jugendlichkeit heraus. Eben sie sind primärer Adressat jener Mahnung. An sie ist die Botschaft in erster Linie gerichtet. Hesse spricht zur Jugend, um sie zu mahnen, ohne sie belehren zu wollen.
Und schließlich: Viele Menschen, um nicht zu sagen, die Mehrzahl der Menschen, sehen aus irgendeiner diffusen, inneren Einsicht heraus, dass das soziale Versagen des Jugendlichen Folge erzieherischen Versagens sei. Dies ist richtig und falsch. Richtig insofern, dass gerade im Kindes- und Jugendalter die Erziehung das konstituierende Element des Charakters ist. Falsch insofern, dass nicht über die Erziehung hinaus auf die Bedingungen des Erziehers übergegangen wird, denn die Erziehung selbst ist die Spezifikation einer allgemeinen Erziehung. Fragend formuliert: Wer erzieht denn den Erzieher? Ohne diese Fragestellung wird der Vorwurf im halben Gedanken gebremst, angehalten und auf die Privatheit des Erzieher-Erzogenen zurückgeworfen – eine Gedankenlogik, die unter der Penetration der Logik durch den Gedanken des Liberalismus leidet („Du bist immer selbst(!) Schuld und selbst(!) verantwortlich“, d.h. der Einzelne wird permanent auf sich selbst, auf seine Einzelheit zurückgeworfen). Nimmt man diese Fragestellung hinzu, so geht man über die Privatheit des Erzieher-Erzogenen hinaus in die Sozialität derselben. Dann beginnt die Sozialkritik, und der Individualvorwurf wird lediglich Konsequenz bzw. Folge einer sozialen Fragestellung. Denn wer sagt, die Erziehung ist wesentlich für ein Kind bzw. für einen Jugendlichen, der muss auch sagen, die Sozialität, also die Gesellschaft, die die Erzieher und entsprechende Institutionen schafft, ist wesentlich für die Erziehung der Erzieher. Alles andere käme dem gleich, den Teufel im Himmel zu suchen und Gott in der Hölle – ein circulus vitiosus.
„Unterm Rad“ ist aus dem Schlag jener Literatur, die die Doppelseitigkeit der Individualität erkennen und in illustrer Weise in Kunst zu verarbeiten wissen. Darum handelt es sich auch vorliegend um sozialkritische Kunst.
Von Mesut Bayraktar, 3. September 2015
Weitere Rezensionen auf Nous:
Hermann Hesses “Der Steppenwolf” oder Die destruktive Passion
Erich Maria Remarques “Arc de Triomphe” oder Zeit zu warten und Zeit zu kämpfen
Franz Kafkas “Das Schloss” oder Opazität der Macht
Folgt uns auf Facebook: www.facebook.com/nous.literatur
2 thoughts