Die geniale Konzeption des Romanfragments in der späten Römischen Republik um 80-50 Jahren v. Chr. und die Einbettung eines komplexen Beziehungsgeflechts zwischen Patrizier und Plebejer, Volkstribunat und Senat, City und Senatspartei, Popularen und Optimaten ist für jede/n ein besonderes Erlebnis, die/der ein Faible für die literarische Verarbeitung von Geschichte und Politik hat.
Der Erzähler ist ein römischer Schriftsteller, der ca. drei Jahrzehnte nach der Ermordung des Julius Caesar das Vorhaben auf sich nimmt, eine Biografie über jene große Persönlichkeit, den „römischen Alexander“, zu verfassen. Dementsprechend macht er sich auf die dokumentarische Suche nach den Spuren des heroischen Imperators und stößt auf den Zeitzeugen Mummlius Spicer (Gerichtsvollzieher zu Caesars Lebzeiten, mit dem er gesprochen haben soll), durch den er, was viel interessanter ist, zu den Tagebüchern des Rarus, des Sklaven und Sekretärs von Caesar, gelangt. Diese Tagebücher sind der Hauptgegenstand des Romanfragments, die von pikanten wie kühnen Urteilen des Spicers begleitet und von kurzen Reflexionen des Biografen, also des Erzählers, ergänzt werden.
Der Bericht des Tagebuchs, der natürlich fiktiv ist und dem historischen Verlauf des Gesamtkontextes fiktive Figuren hinzufügt, ist der Bericht über den Charakter des Brecht’schen Caesars. Dieser wird in der unbestechlichen Sprache Brechts als frivoler und rücksichtsloser Finanz- und Machtpolitiker vorgestellt, der einzig und allein das Ziel verfolgt, wenn auch aus Gründen, die möglicherweise der Langeweile entspringen, profitable Geschäfte abzuwickeln, um durch sie Macht zu generieren. Die Catilinarische Verschwörung, mit der mehr oder weniger die Tagebuchberichte beginnen, wird als politisches Schauspiel vorangeschoben, damit das realpolitische Kalkül des Caesars seinen Unternehmergeist und seinen Geschäftssinn in der wirklichen, hintergründigen Politik zur Geltung verhilft. Die Catilinarische Verschwörung ist ein gezielter Schachzug des Caesars, der die Lage verklärt, um seine Gläubiger – denn Caesar steckt latent in unerhörten Schulden – zu beschwichtigen, damit er anschließend die politischen Verhältnisse derart verschiebt, sodass neue Freiräume entstehen. Doch primär will er während der Aufstände durch den Kauf von Grundstücken, die er sich de facto nicht leisten kann, Kapital schlagen. Zudem nutzt er durch (monetäre) Spekulationen, die den Verlauf der Verhältnisse konkret beeinflussen, den Asienfeldzug des Pompeius aus, der eine große Masse an Sklaven freisetzte und sie nach Rom versandte, was die Löhne der City verminderte und den Preisverfall von Korn nach sich gezogen hatte. Wie ertragreich die Geschäfte des Caesars wirklich sind, bleiben unbestimmt. Fest steht jedoch, dass er das Talent zu besitzen scheint, sich listig und kühn aus misslichen Lagen zu schleusen, um die eröffneten Freiräume in seinem Interesse auszunutzen. In diese setzt er sich fest, schaltet seine Kontrahenten aus und ebnet allmählich den Weg der res publica in eine Diktatur. Die Schwächen einer Demokratie, namentlich ihre Bestimmtheit durch ungezügelte Geschäftsinteressen, werden in überspitzter Weise und mit feinem Humor offenbar.
Es ist famos die Zwistigkeiten römischer Persönlichkeiten wie u.a. Cicero, Crassus, Catilina, Pompeius, Clodius Pulcher und natürlich Gaius Iulius Caesar in einem Roman verfolgen zu können, der die Machtgier innerhalb der späten römischen Republik mit der subtilen, eigentlich numerischen Vernunft eines Geschäftsmannes dekuvriert. Die späte Römische Republik wird als kapitalistisches Exempel der römischen Geschichte statuiert – und dabei fehlt es weder an Witz, noch an Ernst, noch an Spritzigkeit. Der Roman ist der literarische Versuch eine bestimmte historische Epoche mit einer materialistischen Geschichtsauffassung zu deuten, die ihren Untersuchungsgegenstand auf seinen materiellen Boden zurückführt, aus dem in seiner Umkehrung die Idee erwächst, statt ihn von seinen Ideen und kulturellen Errungenschaften her, heroisch und mithin idealistisch zu begreifen, sodass die materiellen Verhältnisse ausgeblendet werden würden und indes notwendig die Fokussierung zur Popularisierung, zum Kult verführen würde. Die literarische Verarbeitung indiziert die Momente der Fiktion. Insofern, um einem Missverständnis zuvorzukommen, handelt es sich nicht um gewissenhafte Geschichtsdeutung, womit ein Historiker sich in seiner Wissenschaft definiert. Es handelt sich um gewissenhafte Literatur eines rational denkenden Künstlers. Brecht interpretiert uns die res publica.
Oder wie Spicer, der geschäftstüchtige Gerichtsvollzieher, es formuliert, als er die Tagebücher aus seiner Bibliothek holt und Rarus überreicht: „Erwarten Sie nicht, darin Heldentaten im alten Stil zu finden, aber wenn Sie mit offenen Augen lesen, werden Sie vielleicht einige Hinweise darauf entdecken, wie Diktaturen errichtet und Imperien gegründet werden.“
Dieser Rarus, unser Biograf, der sich einen Begriff von der Glorie und der mythischen Unsterblichkeit Caesars machen will und das geschäftliche Kalkül des lustigen Caesars entdeckt, ist der Leser. Es ist sehr schade, dass dieses Romanfragment – einzigartig in seiner Aufmachung und seiner spannenden Darbietung – nicht zu Ende verfasst wurde. Nichtsdestotrotz: Es lohnt sich ein Rarus zu sein.
Von Mesut Bayraktar, 18. August 2015
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