Krieg im Frieden: Demokratische Alternative contra antidemokratische Administration?

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Griechenland steckt Hals über Kopf unter Wasser. Morgen ist – nach unzähligen vorangegangenen Treffen – ein wichtiger Euro-Gipfel angesetzt; es heißt, wie es oft geheißen hat, der letzte und entscheidende und nicht mehr aufzuschiebende. Die Parlamentarier und Bürokraten wurden bereits über das Wochenende auf Hochtouren einberufen, um über das Schicksal einer ganzen Bevölkerung zu pokern. Heute Abend klingeln alle Amtstelefone. Die Gemüter sind hitzig, die Luft ist schwül und wird eng.

Ausgangslage ist: Am 30. Juni läuft das bereits zweimal verlängerte Hilfsprogramm für Griechenland aus. Zudem sind am selben Tag rund 1,6 Milliarden Euro fällig, die Griechenland an die IWF zu zahlen hat.

Worum es jetzt bei den Verhandlungen zwischen Griechenland und der Troika insbesondere geht, ist, dass Griechenland die nächste Kredittranche in Höhe von 7,2 Milliarden Euro, mit der sie die Forderungen Ende Juni zu begleichen hat, nur im Gegenzug eines durch die Gläubiger diktierten Reformpakets erhält. Hauptgegenstände der Kreditauflagen sind die wesentliche Erhöhung der Mehrwertsteuer, in einem Land, wo die Löhne seit Beginn der Krise um 35 bis 40 Prozent gesunken sind, die Wirtschaftsleistung um 27 Prozent zusammengebrochen ist und die Arbeitslosigkeit bei 27 Prozent, die Jugendarbeitslosigkeit bei über 50 Prozent liegt,  und die wesentliche Kürzung von Renten, in einem Land, dessen durchschnittliches Renteneintrittsalter bei ca. 65 Jahren liegt und ein Drittel der Bevölkerung nicht mehr an dem Krankenversicherungssystem teilnimmt, ja wo die Kindersterblichkeit um 43 Prozent, die Selbstmordrate um 45 Prozent gestiegen ist. Es ist schlicht Euphemismus davon zu sprechen, die Europäische Union „rette“Griechenland mit ihrer Austeritätspolitik. Im Gegenteil: Sie lässt das Land im Interesse des Kapitals ausverkaufen und durch den Neoliberalismus ausbluten. Angesichts der faktischen Lage muss man nüchtern feststellen: Griechenland ist pleite. Griechenland erhält Geld von jenen, denen Sie das Geld zurückgeben muss; wobei, wie im Darlehensverhältnis üblich, zunächst die Zinsen gezahlt werden und dann er erst der Kredit, und zudem im vorliegenden Fall der Schuldner zusätzlich Auflagen zu erfüllen hat – ein kaufmännisches und geschäftsmäßiges Reglement. Und jene, die das Geld verleihen, administrieren zugleich das ganze Land.

Und doch ist Griechenland unter der Führung Syrizas den herrschenden Klassen in Europa ein Dorn im Auge. Es ist ein Querulant. Denn die Griechenland-Krise ist der nun historische Kulminationspunkt eines fragilen und konfliktträchtigen Geschäftsmodells, das zur Erhöhung des Profits und zur Ausdehnung des Marktes dient. Zum einen gefährdet die Griechenland-Misere wirtschaftspolitisch die Angleichung nationaler Volkswirtschaften hin zum erklärten Ziel der Schaffung einer auf Konkurrenz und Wettbewerb basierenden Freihandelszone. Zum anderen – dieser Aspekt ist wesentlich ausschlaggebender – überschneidet sich in Griechenland vor dem Hintergrund von EU-Militarisierung, Nato-Ausdehnung, bundesrepublikanischer Verantwortungsphrasen und dem Ukraine-Konflikt das geopolitische und strategische Interesse der drei Achsenmächte USA einschließlich die EU, Russland und China. Griechenland ist die Achillessehne Europas. Das hat die Obama-Administration früh erkannt, die kürzlich beim G7-Gipfel in Elmau unmissverständlich zu erkennen gab, dass Griechenland keinesfalls aus der Euro-Zone ausscheiden dürfe. Denn in der Natur der Sache liegt, dass Griechenland, als Südostgrenze der EU, neue Verbündete wird suchen müssen, und zweifelsohne Russland, China und lateinamerikanische Länder in Frage kämen. Es ist nicht nötig  auszuführen, welche Gefahren eine solche Entwicklung aus Sicht der USA und EU in Gang setzen kann und welche ungeheuerlichen militärischen wie geheimdienstlichen Anstrengungen bereits seit Monaten und Jahren hinter der parlamentarischen Kulisse betrieben werden, um solcherlei Gefahren im Keim zu ersticken (Man denke an den Ukraine-Konflikt, an den plötzlichen Ölpreisfall zu Beginn des Jahres und der anschließenden Unentschiedenheit Saudi-Arabiens in den OPEC-Verhandlungen den Ölpreis festzusetzen etc.) Es geht nicht darum Russland oder China gegen die USA und EU als Erlöser zu stilisieren. Ganz im Gegenteil: es geht darum, darauf hinzuweisen, dass alle Beteiligten im weltweiten Krieg im Frieden, im internationalen Konkurrenzverhältnis zueinander stehen und institutionalisierte Apparate sind, um die eigenen Kapitalinteressen bestmöglich zur Durchsetzung zu verhelfen, anders formuliert: renditeorientierten Wachstum zu schaffen und „marktkonforme“ Politik zu betreiben, dessen subtilste Form man mit der Bundeskanzlerin, die Begründerin jener komatösen Regierungskunst, Pragmatismus nennen darf, wobei der Pragmatismus freilich selbst eine Ideologie ist, von der sie meint nichts zu wissen. Bereits der Antisemit und zu seiner Zeit populäre Historiker Heinrich von Treitschke, den die nationalsozialistische Zeitung „Der Stürmer“zelebrierte, verstand den Staat als die Macht, sich im Völkerkampf zu erhalten. Man könnte meinen, trotz über hundert Jahre Entwicklung hat sich strukturell zwischen den Staaten nichts verändert, wenn man an die Stelle der rassischen Verblendung Treitschkes das Kapitalinteresse transnationaler wie nationaler Konzerne setzt, deren, wie Jean Ziegler auf der G7-Gegendemonstration in München sagte, „Befehlsempfänger“ die Staaten sind.

Nun denn! Kommen wir zurück zur Achillessehne der Europäischen Union. Als Auswegsmöglichkeit für Griechenland hören wir immerzu Schuldenschnitt oder Grexit. Die Troika und die Bundesregierung, unter der selbst der Sozialdemokrat Sigmar Gabriel nach der Springer-Presse nun auch die nationalistische Karte gegen Athen zog, sind wirtschaftlich in Bezug auf den Schuldenschnitt sehr widerwillig, da die Europäische Union, so das Kalkül, wirtschaftlich den Ausschluss Griechenlands verkraften könnte. Doch die Logik der politischen Verhältnisse in und um Europa drängt beide zu diesem Instrument. Ist nämlich Griechenland erst einmal ausgeschlossen, so wird sich, neben der Staatskrise in Griechenland, ein politisches Erdbeben in der Peripherie Europas auslösen, das eine Energie freisetzen wird, welche sich über Italien, Spanien, Portugal und Frankreich ausdehnen und allmählich ins Epizentrum Europas gespült wird. Diese Energie wäre eine demokratische Energie der europäischen Völker – denn eine demokratische Energie ist immer eine Energie aus der Bevölkerung, nicht aus dem Parlament und erst recht nicht aus dem Militär –, die das Kartell von Politik und Kapital zerschlagen und an dessen Stelle eine solidarische und kooperative, selbstbestimmte Zusammenarbeit setzen könnte, also eine Alternative von unten. Davor haben die herrschenden Klassen in Europa Angst, wohlgemerkt, sie haben Angst vor den Menschen. Eine Wahlstimme ist ihnen vorzugswürdiger und bequemer.

Denn eines sticht doch geradezu hervor, wovon in allen herrschenden Ebenen krampfhaft geschwiegen wird: die Raffinesse der Banken, die es geschafft haben, die permanente Krise des Kapitals 2008 heraufzubeschwören, politisch umzubenennen, Folgen und Verantwortung gänzlich auf Bevölkerung und Staat zu verschieben und nun maßlos zu spekulieren und als größter Profiteur aus der Krise zu weichen, kurz, vom Schuldner einer gegen sich gerichteten Forderung zum Gläubiger desselben zu werden. Denn die ominösen, privaten Gläubiger, von denen oft die Rede ist, sind die Banken, darunter die größten deutsche Banken. Das darf man nicht vergessen. Warum spricht niemand von den Banken, aber jeder ausschließlich von der Notwendigkeit der Enteignung einer ganzen Bevölkerung, die ihre Lage nicht verschuldet, sondern erleidet hat?

Zudem: wie kann es sein, dass die Europäische Zentralbank, zuständig für Geldpolitik, über Jahre hinweg eine derart bodenlose Macht in ihrer Institution generiert und die Finanzaufsicht in ihre eigene Institution inkorporiert hat, wo sie doch weder demokratisch legitimiert ist, noch ihre Aktivitäten demokratisch überprüfbar sind? Wie kann es sein, dass bereits das unverbindlich gesprochene Wort von Finanzbürokraten, deren Biographien haufenweise im Finanzkapital fußen, die Macht haben, zu bewirken, ob zum Schluss des Tages Arbeiterinnen und Arbeiter ihren Lohn oder Arbeit erhalten, Sparer ihr Geld und Kranke ihre Medikamente?

Die Syriza hat mit großen Versprechen die Regierungsverantwortung angetreten. Einiges wird bereits verschwiegen, für anderes wird weiterhin gekämpft. Zusammengefasst kann man aber sagen, dass sie für ein anderes Europa eintreten wollte, was für große Bevölkerungskreise in Europa, insbesondere in krisengeschüttelten Ländern, insbesondere für die Europäische Linke Hoffnung und Zeichen für Wandel hieß. Angesichts dessen, muss sie sich fragen, ob dem mit einem Schuldenschnitt beizukommen wäre oder dieses Instrument nicht schlichtweg Aufschub hieße? Will sie diese Alternative für Europa, dann bleibt Griechenland im Interesse der eigenen Bevölkerung und der Europäischen Linke nur noch übrig, aus der Euro-Zone auszutreten, Kernbereiche der Wirtschaft zu verstaatlichen, planmäßig und vernünftig Arbeit zu organisieren, sukzessiv den Staat institutionell und strukturell umzubauen, die Demokratisierung in sämtliche Bereiche der Wirtschaft zu führen, mit den Menschen zu denken und zu handeln statt ihnen das Denken zu nehmen und ihnen fertige Rezepte aufzubinden und den Weg hin zu einer Demokratie von unten, hin zum Sozialismus einzuleiten. Dieser Weg birgt ungeheuerliche Gefahren und ja, sie käme revolutionären Zuständen gleich, doch die Syriza, für die dann eine Zusammenarbeit mit der nicht unbeachtlichen KKE möglich wäre, hat die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich, die ein Ende der Austeritätspolitik wollen, die ein anderes Miteinander wollen, die Selbstbestimmung wollen – wir kennen alle die Bilder der Empörten auf der Akropolis. Innenpolitisch müsste eine solche Regierung sich auf Breite Teile der Bevölkerung stützen und den Kontakt der Rechten mit dem Militär gänzlich unterbinden, damit sie nicht den Staatsapparat unterwandert. Außenpolitisch müsste dieselbe Regierung Verbündete suchen, die sie vor allem in Lateinamerika finden würde, und jeden Konflikt mit anderen Nationen im Namen ihres Selbstbestimmungsrechts vermeiden.

Wäre dies nicht ein gangbarer, realistischer Weg? Ein Weg, den Syriza den Menschen in Aussicht stellte? Ein Weg, der ein Beispiel für den Rest Europas wäre? Ein Weg, der helfen könnte, Strukturen und Institutionen der Europäischen Union wesentlich zu demokratisieren? Ein Ausweg aus den unersättlichen Fängen der Zikaden?

Wie dem auch sei, die Krise in Griechenland spitzt sich immer heftiger zu. Auf die erpresserische Arroganz der Troika ist kein Verlass. Sie verfolgen wesentlich andere Interessen, als der griechischen Bevölkerung gut tun würde. Das hat sie oft genug bewiesen. Beispielsweise sind die Schulden Griechenlands seit Umsetzung der Troika-Diktate von 120 Prozent der Wirtschaftsleistung auf 175 Prozent gewachsen. Ob nun die Syriza will oder nicht, sie muss entscheiden müssen. Kapital hat Griechenland, welchen Weg sie auch gehen mag, nicht mehr. Das, was sie aber noch hat und ihnen ihre historische Situation bietet, ist Arbeit und Solidarität.

Von Mesut Bayraktar

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