Literaturkritik: “Schuld und Sühne“ oder das Verbrechen des Propheten

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„Hm, alles liegt in den Händen des Menschen, und er läßt es sich entschlüpfen, weil er feige ist. Das steht fest. Ich wüßte gern, was die Menschen am meisten fürchten. Vor einem neuen Schritt, vor einem neuen, eigenen Gedanken haben sie die größte Angst. Übrigens schwatze ich zu viel.“ Seite 2 in Schuld und Sühne.

Ein Gedanke, ein Bekenntnis: Das ist die Psychologie eines verwegenen, sich in den finsteren Sphären der Amoralität bewegenden, doch in Großmut sich wiegenden Gespenstes, der mit Haut und Haar nach Selbstverwirklichung giert. Das ist der erste Gedanke eines Freidenkers, der in seinem Denken weder Grenzen noch Höhen, sondern nur die tiefsten, unergründeten Abgründe kennt, die die menschliche Seele über die ganze Weltgeschichte hinweg in eine permanente Bredouil­le führt. Das ist die gefährliche Ahnung einer zynischen Intelligenz, die zu erkennen beginnt, dass alles in der Welt durch Menschenhand Geschaffene fragil; alle in der Gesellschaft durch die Menschenvernunft konstruierte Moral fingiert; alles den Antlitz der Ehrfurcht und Erhabenheit durch das Streben der Menschenseele tragende Heilige erfunden und alles sich durch den Menschengeist als Wahrheit Deklarierende willkürlich ist. Das ist der Charakter des tollkühnen, bodenlosen, unbeherrschten Rodion Romanowitsch Raskolnikow.

Wenn alles in den Händen des Menschen liegt, dann ist alles durch und durch menschlich. Und so wie jedes menschliche Gebilde – gleichwohl ob materiell oder ideell – errichtet wurde, so kann es ebenso durch die Hände des Menschen niedergewalzt und vernichtet werden.

Raskolnikow führt den Leser durch seine skrupellose Raffinesse hindurch vor jene Frage, mit dessen Antwort jedwede Moral beginnt oder auch endet: ist der Mord an einer der Gesellschaft unnützen, ohnehin bald sterbenden, materiell jedoch wohlständigen Person legitim, wenn durch die anschließende Aneignung der materiellen Mittel die Bedingungen geschaffen sind, die der Täter braucht, um seine Fähigkeiten auszubilden, damit sie der Gesellschaft Reichtum und Glorie werde. Hat dieser Mörder das Recht?

Ist das nicht das Recht des Chauvinismus? Ist er überhaupt ein Mörder? Ist er gar ein Held oder Genie? Handelt es sich nicht schlichtweg um ein probates Mittel, das selbst die alten Azteken kannten, indem sie ihrem Gott um der Güte und des Schutzes willen ein Menschenleben aufopferten? Aber den Azteken beschied es nicht Fortschritt – oder etwa doch? Darf ein Führer dieses Opfer vollziehen, insbesondere wenn das Opfer ein Hindernis ist? Darf das Opfer hin zum Fortschritt, zur Entdeckung oder hin zum Erwachsen, zur Erhebung der Menschheit erbracht werden? Ist die hundertfache Übeltat eine Großtat wert? Darf ein Hals abgeschnitten werden, um mit dem aus ihm herausströmenden Blut ein Gemälde zu malen? Ist der Wohltäter ein Verbrecher? Muss der Wohltäter ein Verbrecher sein, damit er Wohltäter wird – dann ist er ein Schlächter? Handelt es sich sogar weniger um ein Recht als vielmehr eine Pflicht im Namen der Menschheit, im Namen der Finalität der Geschichte – der historischen Wahrheit? Müssen all diese Fragen nicht mit einem kurzen und knappen „Ja“ beantwortet werden, wenn man an den Gesetzgeber, an den Herrscher, an Lykurg, an Solon, an Perikles, an Alexander, an Cäsar, an Sultanen, an Napoleon, an Bismarck etc. etc., an all die Barbaren und Wohltäter, an all die Verbrecher und Hirten, an all die Patronen und Befreier, kurz an all die Vergeltung des Guten mit dem Schlechten denkt? Müssen diese Fragen dann nicht zwangsweise mit einem achselzuckenden, selbstgerechten, herzlosen „Ja“ beantwortet werden? Finster ist diese Welt.

Der Herrscher würde dieses unumgängliche „Ja“ wohl damit begründen, dass jede ruhmreiche, die Welt in seinen Grundfesten erschütternde Geburt den Tod der Mutter nach sich zieht. Eine Metamorphose, wie sie die Geschichte fortwährend erlebt, ist eine Koinzidenz von Geburt und Tod. Jeder Schöpfung geht eine Annullierung voraus. Im Namen der Großtat ist alles erlaubt.

Kann man dessen Stolz sein und darf man die Biografie der Menschheit, die Geschichte, deswegen rühmen? Eine bis zur Ewigkeit offene Frage mit ebenso offenen Antworten, sieht man sich das tägliche Treiben der Völker und Nationen an. Eine endgültige Antwort wird so lange ausbleiben, wie es die Menschheit geben wird.

Wenn gestern nicht wär‘, gäbe es heute nichts. Die rastlos waltende Geschichte ist ein Tempel tiefer Leiden und Schmerzen, auf dessen Säulen ein Scherbenhaufen liegt, wo wir unser täglich Freud‘ und Glück tanzend und singend teilen. Glück ist dem Schuldigen vergönnt, denn der Unglückliche ist zum Opfertod verdammt. Es lebe der Fortschritt, es lebe das Glück; es sterbe das Missratene, es sterbe das Unglück! Die Welt gehört dem Schuldigen.

Raskolnikow will ein Napoleon sein. Und Napoleon kennt kein Gesetz. Und dem Gesetzlosen ist das Verbrechen fremd – denn, wo kein Gesetz, da kein Verbrechen. Doch wo der eine den skrupellosen Hochmut des Unbeirrbaren lebt, irrt der andere in dem naiven Hochmut des Unwissenden. Raskolnikow, wie sehr fühlen wir die diabolische Pein, die in dir grollt, die dein Haupt peitscht, die deine gute Seele vergiftet!

Der Stil Dostojewski ist einzigartig, seine Sprache bedächtig, das Wort echt und der Gedanke des Worts authentisch. Die ganze Komplexität, die im Kern in viele Richtungen bricht, wie das Lichtphoton im Kaleidoskop, wird in dem Buch gebunden und durch das Buch zur Einheit gefasst. Jeder Satz webt sich in den Nächsten, wie jede Funktion im Organismus in die Nächste greift. Jeder Satz ist die notwendige Folge des Vorangegangenen und erhält seine Bedeutung erst durch die Beziehung zum Kontext. Nichts steht für sich. Alles korrespondiert miteinander. Und trotzdem bleibt der Kriminalroman unberechenbar und bis zuletzt undurchschaubar.

Das ist nicht Verworrenheit, das ist Absicht. Das Buch bleibt unentwirrbar ehe es der Erzähler entwirrt. Der Erzähler spricht nur so viel aus, wie die Handlung es verlangt. Auch wenn der Erzähler den Verdacht der Allwissenheit erwecken lässt, weil er u.a. unvermittelt psychologische Einschnitte einbringt, ergreift dem Leser bei dem Gedanken Herzflackern, dass der Erzähler ein Schwindler sein könnte, der ebenso im Dunkeln tappt, wie der Leser selbst. Doch der Erzähler ist ein Chamäleon. Jeder Fortgang des Erzählers bleibt endlich doch ein selbstbewusster. Das ist die List des Erzählers, die Spannung erzeugen soll und erzeugt. Er ist dem Leser nicht ein Schritt, sondern einen halben Schritt voraus.

Ein schier geschlossenes, nur zu bewunderndes Buch. Es ist ein totales Buch, ein Buch, das zu Ende gedacht wurde. Man möchte fast sagen, es ist perfekt, da es weder mit einem Komma noch mit einem Punkt und schon gar nicht mit einem Wort einer Ergänzung bedarf. Diese Konsequenz, die aus der Notwendigkeit jedes Wortes erwächst, ist vielleicht die Qualität, die Dostojewski zu den Meistern hebt. Sie gibt der Sprache die sonderbare Eigenschaft, eine Seele zu haben, die leidet und weint, die ein Eigenleben führt. Das macht das Buch zu einem Menschen. Beginnt der Leser die dämonischen Schreie dieser dunklen Seele zu vernehmen, so ist es kein anderer, als der im Abgrund einer Seele sitzende Raskolnikow, der schelmisch lächelnd und doch im Herzschmerz versunken die Gültigkeit von Moralgesetzen, ja die Moral, gar das Gewissen selbst und den Wert eines jämmerlichen Lebens in Frage stellt. Dann kann der Leser offen beichten, dass auch in ihm ein Raskolnikow sitzt.

Doch wir beruhigen diesen unerwünschten Freimut und sprechen ihn frei. Er ist nicht alleine.

Von Mesut Bayraktar

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