Hunger ist ein schlechter Koch: Bertolt Brecht zum ersten Mai

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Zuerst blamiert er die Ideen der Herrschenden durch die Konfrontation mit ihren Interessen. Dann ging Bertolt Brecht einen entscheidenden Schritt weiter.

Selten sieht man den marxistischen Dichter so gelassen und erfüllt. Bertolt Brecht steigt in einen Festwagen, neben ihm die Schauspielerin und Weggefährtin Helene Weigel. Unmittelbar hinter ihnen ist überdimensional das kreisrunde Signet des Berliner Ensembles, das sich heute als Leuchtreklame auf der Turmspitze des Theaters am Schiffbauerdamm dreht. Vor wenigen Monaten übernahmen sie und ihre Mitarbeiter die Leitung des Theaters. Brecht trägt ein abgewetztes Hemd, bis zum Hals zugeknöpft und mit breiten Taschen an den Seiten. Die rechte ist offenbar von einem Gegenstand beschwert. Mit einer Schiebermütze in der Hand hebt er den rechten Arm zum Gruss. Unter seinem dünnen Schnurrbart zeichnet sich ein Lächeln ab, bei Weigel ist es unübersehbar.

In diesem Augenblick drückt am Karl-Marx-Platz in Ost-Berlin Horst Sturm, der noch einer der erfolgreichsten Fotografen der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) werden sollte, auf den Auslöser seiner Analogkamera. Ein Schwarz-Weiss-Bild entsteht. Es ist Fest- und Kampftag, der 1. Mai 1954, und die Künstler des Berliner Ensembles befinden sich in den Reihen des Aufbaus einer klassenlosen Gesellschaft durch die arbeitende Klasse.

Zu diesem Zeitpunkt steht seine gesamte Arbeit im Zeichen des Friedens, auch ausserhalb des Theaters. Vor seinem Tod am 14. August 1956 protestierte er als Staatsangehöriger der DDR gegen den Beitritt der Bundesrepublik in die Nato. An den Präsidenten des Deutschen Bundestags in Bonn schrieb er einen Brief gegen die Wiedereinführung der Wehrpflicht.

Einen langen, mühsamen, von zahlreichen Kämpfen gepflasterten Weg musste Brecht bis dahin zurücklegen. Zu diesem Zeitpunkt hatte er schon einen festen Platz als anerkannter Kommunist und Dichter in der revolutionären Arbeiterbewegung.

Krieg und Revolution

Bedeutsame Werke in der Literatur erhalten ihre Verbindlichkeit durch die Denkvoraussetzungen, die aus den Klassenkämpfen ihrer Zeit hervorgehen. Für den am 10. Februar 1898 in Augsburg geborenen Bertolt Brecht sind das imperialistische Gemetzel im Ersten Weltkrieg und die Niederschlagung der Novemberrevolution 1918/19 durch die Kollaboration der Sozialdemokratie mit protofaschistischen Freikorpstruppen die ersten einschneidenden Erfahrungen. Der junge Dichter wurde im Oktober 1918 als Lazarettsoldat eingezogen. Einen Monat später wählten ihn die Aufständischen im Zuge der Novemberrevolution zum Mitglied des Augsburger Arbeiter- und Soldatenrats. Diese Erlebnisse und Eindrücke münden in seinem Theaterstück «Trommeln in der Nacht», das 1922 in München uraufgeführt wurde. Es ist Brechts erstes Stück auf der Bühne.

«Trommeln in der Nacht» handelt vom vermissten Kriegsheimkehrer Andreas Kragler, der sich kurz dem Spartakusaufstand in Berlin anschliesst, sich aber dann endgültig für seine Verlobte Anna Balickes entscheidet. Ein schäbiger und nutzniesserischer Umgang mit den Revolutionären. Das kleinbürgerliche Privatglück ersticht das Klassenbewusstsein. Es enthält die versteckte Analyse: Das deutsche Proletariat war in seiner Breite noch nicht reif für den sozialistischen Umsturz.

«Glotzt doch nicht so romantisch!» wird die provokante und berühmte Parole nicht nur für Brechts Angriff auf das bürgerliche Einfühlungstheater und den vorherrschenden Illusionismus in der Literatur. Sie markiert auch seine frühe Ablehnung gegenüber politischem Idealismus und der Revolutionsromantik schlechthin. Die Revolution ist notwendig, das erkannte Brecht durchaus. Dass die Geschichte der kapitalistisch formierten Gesellschaft sich real in Klassenkämpfen vollzieht, dazu fehlten ihm noch die Einsichten durch das historische Material und ein Begriff von materialistischer Dialektik. Den vollen Ernst der Erhebung hatte er nicht realisiert. Über die russische Revolution und die Bolschewisten wusste er noch nichts Genaues.

Dennoch werden Krieg und Revolution ein Leben lang die zentralen Themen von Brecht sein, noch ehe er sich eine systematische Kritik der politischen Ökonomie kapitalistischer Produktionsweisen angeeignet hat. Jahre später wird er rückblickend notieren: «Genossen, bevor wir Sozialisten waren, waren wir Unglückliche.»

Was du siehst, ist nicht alles

Mit dem grossen Erfolg der ersten Bühnenaufführung, verbürgt vom ästhetischen Urteil des Theaterkritikers Herbert Ihering im Berliner Börsen-Courier, zog Brecht 1924 nach Berlin. Er begann gemeinsam mit dem Schriftsteller Carl Zuckmayer eine Tätigkeit als Dramaturg für Max Reinhardt am Deutschen Theater. Das Handwerk, mit Sprache Realität zu durchdringen, beherrschte er bereits. Noch wendete er aber in seiner Dichtung die sittlichen Massstäbe der bürgerlichen Ordnung gegen die gesellschaftliche Realität derselben, ohne konkrete Auswege in Aussicht zu stellen. Daran litt er, dass er die Selbstwidersprüche der Bürgerlichen nicht anders als mit poetischen Volten schlagen und bissiger Komik beklagen konnte.

Sein Theaterstück «Die Dreigroschenoper» (1928) steht exemplarisch dafür. So fragt auf der einen Seite die Prostituierte Jenny: «Wovon lebt der Mensch». Und der zum Bürger werdende Gangster Macheath erklärt selbstbewusst und wendet sich unmittelbar an das Publikum: «Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral. / Erst muss es möglich sein auch armen Leuten, / Vom grossen Brotlaib sich ihr Teil zu schneiden.» Es scheint, man müsse den gesellschaftlich produzierten Reichtum nur vernünftig umverteilen, nämlich auch zugunsten jener, die man nicht sieht: «Denn die einen sind im Dunkeln». Brechts Konzept des epischen Theaters kommt erstmals zum Einsatz. Mit Verfremdungseffekten wie solchen Liedern wird eine Identifikation des Zuschauers mit der Figur verhindert. Das erzeugt eine kritische Distanz: Denk darüber nach, was du hörst, was du siehst, was du tust.

Entgegen solchen Manifesten materialistischer Moralkritik sind im selben Stück auf der anderen Seite Zeilen wie in der Ballade «Seeräuber Jenny» zu finden, die die Kritik mit einer revolutionären Lösung verbinden. Jenny erwartet den Tag, an dem ein Schiff mit acht Segeln und fünfzig Kanonen kommt und die Stadt beschiessen wird. Nur das Hotel, wo sie die Wohlständigen bewirtet, soll verschont werden. Und sobald sie von den Befreiern gefragt wird: «Welchen sollen wir töten?» werden die Herren sie sagen hören: «Alle!». Dann wird das Schiff «entschwinden mit mir». Der Umsturz wurde vollzogen, wenn auch in der träumerischen Sehnsucht Jennys. Doch das revolutionäre Subjekt tritt von ausserhalb in das Geschehen ein, anonym, beutelüstern, chiliastisch – eine eindrückliche Warnung an die bürgerliche Klasse. Vielleicht ist gerade wegen solcher Apelle dieses Stück bis heute ein Liebling der Bürgerlichen geblieben. Denn der Adressat der mahnenden Worte sind vornehmlich die Herrschenden. Er blamiert ihre Ideen durch die Konfrontation mit ihren Interessen. Ab Ende der 1920er-Jahre reicht ihm das nicht mehr.

Vorwärts, und nicht vergessen

Aufgrund des Plans, ein Stück über die Börse zu verfassen, las er Karl Marx. In den zahlreichen Notizen und Exzerpten stellt Brecht unter anderem fest: «Als ich ‹Das Kapital› von Marx las, verstand ich meine Stücke. Man wird verstehen, dass ich eine ausgiebige Verbreitung dieses Buches wünsche.» Er findet die weltanschaulichen Parameter seiner Literatur bei Marx, dem «einzige(n) Zuschauer für meine Stücke. Denn einen Mann mit solchen Interessen mussten gerade diese Stücke interessieren. Nicht wegen ihrer Intelligenz, sondern wegen der seinigen. Es war Anschauungsmaterial für ihn.» Nicht nur für ihn.

Brechts Hinwendung zum Marxismus gab seiner Dichtung einen konkreten Boden. Seine Kritik bekam Zähne. Die Erkenntnis reifte, dass in der proletarischen Revolution die Hauptaufgabe der imperialistischen Epoche besteht. Das Marx-Studium hatte ihn gelehrt, dass der Sozialismus die historische Alternative des Kapitalismus ist. Nicht nur die Blamage der Herrschenden, vor allem die reale Notwendigkeit rollt den Ariadnefaden für die Freiheit der Beherrschten ab.

Erst mit der Weltwirtschaftskrise 1929 und des damit drohenden inneren Kollapses des Kapitalismus, was Hitler und den Faschismus für die Bürgerlichen auf den Plan rief, schlägt Brecht den Weg zum kommunistischen Dichter ein. Er zieht Konsequenzen, zu denen ihn seine Dichtung und das Marx-Studium drängten. Markant steht hierfür das «Solidaritätslied». Zwischen 1929 und 1931 ist es als ein Arbeiterlied für seinen Film «Kuhle Wampe» geschrieben worden. «Unsre Herrn, wer sie auch seien / Sehen unsre Zwietracht gern / Denn solang sie uns entzweien / Bleiben sie doch unsre Herrn.» Unumwunden werden die Unterdrückten und Ausgebeuteten angesprochen, nicht von aussen, sondern selbstermächtigend direkt aus ihrer Mitte. Der Refrain «Vorwärts, und nicht vergessen» schliesst die Strophen zu einer vielhändigen Faust zusammen. Und das im Reim eingefangene Schlusswort des Refrains wird zur Kampfgeste: «Die Solidarität!». Sie ist der Kompass des wissenschaftlichen Sozialismus.

Im fünfzehnjährigen Exil ab 1933 wird Brecht endgültig sein literarisches Programm im Einklang mit der elften Feuerbach-These von Marx entfalten: Nicht nur Unrecht und Ausbeutung zu benennen, sondern vom Standpunkt der arbeitenden Klasse das System des Unrechts und der Ausbeutung zu bekämpfen. Seine grossen literarischen Werke und die theoretischen Aufsätze entstehen.

Mit dem Hunger fängt es an

Wladimir I. Lenin wird die Aussage zugeschrieben, im Sozialismus könne jeder erstbeste Koch den Staat regieren. Folgerichtig müsse der sozialistische Staat wie eine gut funktionierende Küche aufgebaut werden. Das Prinzip ist einfach, nur ist es schwer zu machen, doch immerhin machbar.

Im Kapitalismus ist die Machbarkeit selbst schon nicht vorhanden. Hier ist der Staat keine Küche, sondern Garant für die Existenz des Hungers und unerbittlicher Wächter der Klassengesellschaft. In dem erstaunlich wenig bekannten und bis heute von Bürgerlichen verhassten «Me-ti. Buch der Wendungen», das aus Brechts Nachlass herausgegeben wurde, wird die Pointe Lenins in kapitalistische Ökonomien übersetzt: «Hunger ist ein schlechter Koch.» Hier ist jede:r auf sich selbst zurückgeworfen. Wenn der Hunger regiert, ist kein Platz für die Vernunft, und doch ist der Hunger der Stachel, der die Vernünftigen und Leidenden bewegt, ihn zu beseitigen. Der 1. Mai hebt das revolutionäre Potenzial von Brechts Werk grell hervor: Es wird nicht bleiben, wie es ist.

Von Mesut Bayraktar, 28.April24
Bild: Der Wagen des Berliner Ensembles mit
Bertolt Brecht und Helene Weigel am
Marx-Engels-Platz am 1. Mai 1954


Hinweis: Wir bedanken uns bei der Redaktion der Zeitung Vorwärts (Schweiz) für das freundliche Einverständnis, den Text auf unserer Seite veröffentlichen zu dürfen. Ertsmals wurde er zur 1.Mai-Ausgabe des Vorwärts zum 125. Geburtstag von Bertolt Brecht 2023 veröffentlicht. Ein weiterer Text von Mesut Bayraktar zu Bertolt Brecht: „Wer seine Lage erkannt hat – Zum 125. Geburtstag von Bertolt Brecht“

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