Wenn ein Kind auf blutverschmierter straße liegt/
und du dich fragst/
Was die mutter wohl sagt/
Wenn sie ihr Kind jetzt heute und hier sterben sieht/
während du noch schockiert/
dein gesicht verziehst/
und vorbeiziehende schatten in dichtem rauch verschwinden/
Wenn du unter stechenden schmerzen langsam erblindest/
und stumpf hämmernde schwere schritte immer lauter werden, sich nähern/
und du geknickt, keuchend den jungen zu schützen versuchend blind in die leere greifst/
Wenn verzerrte schreie stumpfen schritten entgegen schallen/
und ein schatten dir helfend eine gasmaske entgegenreicht/
Wenn metallisches klirren aus dem himmel ertönt/
Wenn deine sicht verschwommen die silhouetten erkennt/
statt schatten, überall vermummte rennen/
kein rauch, sondern tränengas deine sinne lähmt/
Wenn du keine schritte mehr hörst/
sondern die knüppel spürst/
während das Kind noch neben dir auf der kalten grauen straße liegt/
und eine uniform seine waffe zieht/
Wenn du merkst dass schüsse nicht wie im film halt mal so fallen/
sondern schlichtweg töten/
Wenn panik und angst nicht mehr gefühle sind, sondern zur realität verschmelzen/
Wenn das einzige was du wahrnimmst/
in diesem moment das geschrei der verletzten ist/
und in all diesem chaos der einzige gedanke, der dir jetzt durch den kopf rumspringt:
Was die mutter wohl fühlt/
Wenn sie ihr Kind jetzt heute und hier sterben sieht/
Wenn du dann das Leib Brot neben dem gebrochenen körper des Kindes entdeckst/ Wenn du die gasmaske vor den uniformen versteckst/
im irrglauben zivilisten seien geschützt/
siehst du das blutende Kind/
dich erinnernd, dass unwissenheit niemandem nützt/
Wenn du dich in dieser situation wiederfindest/
zwischen leidverzerrtem Geschrei/
versteckt in einem dichten nebel aus tränengas/
zusammengepfercht und doch einsam/
mit einem sterbenden Kind fest im arm/
Wenn./
Dann weißt du, dass heute der 16. juni 2013 ist. Jener tag,
an dem Berkin Elvan von einem Gummigeschoß der Polizei tödlich getroffen wurde, als er Brot kaufen wollte.

Gastbeitrag von Özgün Kaya, 13. Dez‘ 23

Özgün Kaya, geb. 1993, ist freier Autor und Filmkritiker. Neben seiner journalistischen Tätigkeit ist er gewerkschaftlich aktiv. Özgün lebt in Köln.

Illustration: Katharina Schaaf