Museen wirken oft bedrückend und einschüchternd. Statt diese Erfahrungen in Scham und eventuell in eine Abkehr von solchen unschätzbaren Institutionen umschlagen zu lassen, bringt dieses Essay sie zur Sprache. Damit sollen nicht nur ihre Ursachen umrissen werden, sondern auch die Möglichkeit zur Veränderung vorscheinen.
Erst kürzlich erwachten die Museen aus ihrem virusinduzierten Koma. Der Lockdown wurde gelockert. Nach all den Monaten der Abwesenheit war es unbedingt Zeit für eine Visite, in der Hoffnung, dass es um die Gesundheit des Patienten nun besser stehe. Doch als wir in diese sterilen Hallen traten, da beschlich uns das Gefühl, dass dort ein anderes schweres Leiden in der Luft lag. Nicht wegen der Masken, die alle trugen. Nein. Wie um das Ruhelager eines Fieberkranken schlichen die Menschen auf dem knarzenden Parkett umher. Alles klebte vor Trägheit. Manchmal, wenn sie ehrfürchtig vor einem Bild stehenblieben, machte es den Anschein, als stünden sie in religiöser Andacht an dem Totenbett eines Geliebten, der soeben erst dahingerafft war. Die Atmosphäre glich einer Messe im Allerheiligtum. Ein Lump, wer dort die Stimme erhebt und sich anschickt, über die Bilder zu sprechen.
Wer es wagt, seine Stimme über den Flüsterton hinauszuheben, wird mit bösem Blick bestraft. Darauf folgt das Räuspern. Und wer dann nicht reagiert, der bekommt einen unterbezahlten Leiharbeiter auf den Leib gehetzt. Als mönchische Museumswärter kommen sie einer obskuren Pflicht nach, die ihr eigenes Arbeitsleben zum Schweigegelübde verkommen lässt. Rücksichtnahme! Wem gegenüber? Hartgesottene Fanatiker mahnen zur Stille aus Respekt den Bildern gegenüber. Die Bilder tragen aber weder Hoheitszeichen noch sind sie uns in irgendeiner Art und Weise enthoben. Wer so denkt, der soll auch gefälligst demütig den Blick senken und sich mit den Bildunterschriften zufriedengeben. Dann wäre der Götzendienst absolut. Über Bilder zu sprechen, bedeutet, sie zum Leben zu erwecken. Wenn man nicht zur Sprache bringt, was man sieht, ist man allein und das Bild bleibt nur das Bild der einzelnen. Dann ist das Bild ein totes Bild. Wer verbietet, über Bilder zu sprechen, der tötet sie erst recht. Manchmal, da schreien sogar die Bilder selbst.
In der Regel wird Rücksichtnahme glücklicherweise nur den anderen Besuchern gegenüber gefordert. Aber wenn Rücksichtnahme Stille bedeutet, dann wird das Museum zu einem Ort der Andacht. Eine gedämpfte Stimme ist eine Stimme der Zurückhaltung, eine Stimme der Ehrfurcht, der Anbetung, der Scham. Wir schweigen in Gottes- und Krankenhäusern, auf Friedhöfen, in Bibliotheken. Dort, wo es der Anstand gebietet, weil Krankheit, Trauer oder Konzentration an erster Stelle stehen. All dies hat mit Kunst nichts zu tun. Ein Bild fordert höchstens Konzentration, diese ist jedoch nicht gleichbedeutend mit Stille. Bilder stecken wie ein Roman voller Leidenschaften. Und einen leidenschaftlichen Roman kann man auch im Zug lesen. Er ist kein sprödes Paragraphenwerk. Gewissermaßen können auch Kunstwerke wie Sachbücher behandelt werden. Das hat in der Wissenschaft zweifellos seine Berechtigung. Aber Museen sind keine Forschungsinstitute, die lediglich für Fachleute reserviert sind. Obwohl Bilder immer schon in Tempeln und Kirchen gezeigt wurden, vornehmlich als Symbole der Macht, ist das Museum ganz offensichtlich weder Kirche noch Tempel noch Krankenhaus, weder Friedhof noch Bibliothek.
Die Musen schweigen bekanntlich nur, wenn die Waffen sprechen. Und wir leben doch nicht im Belagerungszustand? Es gibt die Haushalte der Einen, da wird sich zu gegebener Uhrzeit still um den gedeckten Tisch versammelt, Messer rechts, Gabel links. Man spricht dann ganz gesittet, jeder reihum von der Arbeit, der Schule, der Universität, plant vielleicht den nächsten Skiurlaub, lobt den Lernfortschritt des braven Letztgeborenen und lässt sich von ihm nach dem Dessert ein kleines Querflötenkonzert zum Abschluss geben. Aber wehe jemand hebt die Stimme! Das sind diejenige, die auch im Museum zur Sittsamkeit mahnen; es sind vielleicht diejenigen, die das Schweigen offiziell verordnen. Andernorts, bei den Anderen, da hat man statt dem gedeckten Tisch nur einen alten Fliesentisch aus dem Inventar der Großeltern. Wenn man aus Platzmangel im Wohnzimmer essen muss, dann bleibt auch der summende Fernsehapparat angeschaltet. Wenn es diese Anderen mal in die heiligen Hallen der Kunst verschlägt, werden sie vom sittsamen Schweigen der Einen unterdrückt, was sie gleichsam von den Bildern selbst fernhält.
Ich für meinen Teil höre gerne zu, wenn sich Menschen über Kunst austauschen. Das hebt den Fremdheitscharakter dieser vermeintlich erhabenen Werke auf und macht sie nahbar – es verweltlicht sie Übrigens ist das Sprechen über Bilder weder eine Frage des Tonfalls noch des Inhalts. Manchmal enthüllen die Meinungen der Laien mehr über ein Kunstwerk als die akademischen Reden der Experten, die im sterilen Operationssaal den kanonischen Kunstcorpus zu sezieren meinen. Ein gesundes Museum ist nicht auf diese Sterilität angewiesen. Ihm machen die Keime der Straße rein gar nichts. Es öffnet seine Türen vorbehalts- und kostenlos. Wenn man in das gesunde Museum eintritt, sollte man nicht stille Andacht und Ehrerbietung auferlegt bekommen. Es sollte ein Forum der Ideen sein, indem vorbehaltlos über die Bedeutungen der Bilder gestritten werden kann. Gerne auch lautstark. Der gerne marketingtechnisch beschworene ‚Dialog mit den Bildern‘ würde dann in der Tat zur Wirklichkeit werden. Ein gesundes Museum unterscheidet nicht zwischen drinnen und draußen, zwischen der Welt der Menschen und der Welt der Kunst. Es ist vielmehr ein Museum, in dem man nicht auf leisen Sohlen geht, weil man Angst davor haben muss, die krankenden Bilder aufzuschrecken. Bevormundende Ruhe ist in diesem Fall die falsche Medizin. Bilder wollten immer schon aufschrecken und aufgeschreckt werden, wollten immer schon Fragen stellen und befragt werden. Ein Museum wird erst gesund durch die Menschen, die es pflegen und die Bedürfnisse ihrer Patienten ernst nehmen.
Von Lukas Schepers, 15. Juni ’21
Illustration von Noah Kortenbruck