„Über uns der Schaum“ ist der Debütroman des Autors, Malers und Sängers Hendrik Otremba. Das Buch zeichnet sich durch eine besondere Sprachgewalt aus, die zwischen kompromissloser Prosa und tiefschürfende Poesie pendelt. Durch unkritische Übernahmen romantischer Motive gerät die Erzählung jedoch auf fragwürdige Abwege.
Joseph Weynberg lebt in einer Dystopie, die Phänomene unserer Gegenwart ins Schmerzhafte steigert. Giftiger Regen und Korruption zersetzen Mensch und Material. Die Gesellschaft ist drogenverseucht. Es herrscht Gesetzlosigkeit trotz Polizei. Zwielichtige Konzerne sind die wahren Machthaber. Die Städte sind durch gefährliche Einöden voneinander getrennt, die niemand freiwillig betreten will. Deshalb hat Weynberg die heruntergekommene Metropole, die er Heimat nennt, noch nie verlassen. Ertragbar war diese Hölle nur durch die glückliche Zweisamkeit mit seiner Frau Hedy. Doch der nebulöse Mord an Hedy schleudert Weynberg in den Abgrund der Einsamkeit.
Hier setzt die Erzählung des 2017 im Verbrecher Verlag erschienenen Debütromans von Hendrik Otremba ein. Weynberg hat durch den traumatisierenden Tod seiner Frau vollkommen den Boden unter den Füßen verloren. Ihm passiert das, was fernab jeder Dystopie ungezählten Einsamen passiert, die einen solchen Verlust erleben: Er greift zu einer Droge, welche bereits den Großteil der Gesellschaft ergriffen zu haben scheint. Das Portobin, dessen reales Pendant am ehesten in Meth oder Heroin zu suchen ist, degeneriert ihn zu einem ständig onanierenden Primitivling: „Ich bin Weynberg, ich fahre Auto wie ein junger Gott, und ich ficke wie ein junger Gott. Ich breche Nasen und Herzen, wenn mir einer dumm kommt, mach ich ihn kaputt.“ Auf den dissoziativen Rausch folgt der Selbsthass, folgt die Scham, bei der Gewissheit, es wieder zu tun. Aber diesmal behutsamer, vorsichtiger, in geringerer Menge – woraus dann wieder nichts wird. Nüchtern ist er ein von Selbstzweifeln zerfressener Schatten seiner selbst: „Aber jetzt, wo die Wirkung nachlässt, wo die Euphorie nicht mehr zurückzuholen ist, kehrt sich alles ins Gegenteil.“
Macht über Weynberg, Macht über die Welt
Weynberg ist eine Person unserer Gegenwart. In seinem anschaulichen Charakter spürt man den Riss, der durch die Psyche ungezählter Jugendlicher geht. Wir alle sind vermutlich vielen Personen begegnet, die offensichtlich feinfühlige Menschen waren und ob der Kälte der sie umgebenen Welt den Mut verloren haben. Mit Drogenexzessen versuchen sie die Unwegsamkeiten zu kompensieren und verlieren damit nicht nur den Mut, sondern auch sich selbst. Dieser Konflikt trägt sich in Weynberg aus. Er obliegt dem Zwang eines Lebens, das er so eigentlich nicht führen will. So verdingt er sich als Privatdetektiv, weil es das Einzige war, was bleibt, „wenn man alles andere vergeigt hat“, obwohl er eigentlich gerne Dichter geworden wäre. Die gefühlvollen Zeilen aus seiner zerrütteten Feder zeigen, dass er das Zeug dazu gehabt hätte:
„Es war ein Tag
Nun ist er Nacht
Ich will mir meine Stunden nehmen
Der Regen kommt
Wenn er nicht soll
Vermischt sich kalt mit deinen Tränen“*
Die Handlung des Romans wird von einem Fall vorangetrieben, den Weynberg nicht ablehnen konnte. Als Gustav Lang sein Büro betritt, ahnt er bereits Übles: „Wer in der Stadt lebte, in dieser dampfenden Kloake, der kam an dem verlebten Gesicht Gustav Langs, wenigstens für eine Zeit, nicht vorbei. Eine furchige Visage, die mit ihren aufmerksamen Augen den Niedergang der zivilisierten Welt zynisch lächelnd beobachtete, lachte, während die groben Fäuste noch ihren Profit daraus schlugen.“ Lang hat als Chef eines Baukonzerns massig Gelder für den Wiederaufbau der Stadt veruntreut, musste nach einem Skandal zurücktreten, zieht jedoch im Hintergrund immer noch die Strippen. Kritisch berichtende Journalisten wurden ermordet. Wenn man an den Tod von Ján Kuciak, Martina Kušnírová oder Daphne Caruana Galizia denkt, wird klar, dass Otremba es auch hier schafft, gegenwärtige Verhältnisse durch den dystopischen Charakter der Erzählung in ihrer letzten Konsequenz greifbar zu machen: „Krona, der Konzern, strukturierte sich als eigene Welt, mit eigenen Gesetzen.“ Hier tritt offen zutage, was realiter verborgen bleiben soll.
Gustav Langs Problem ist, dass er sich verliebt hat. Und Liebe kann man nicht kaufen. Objekt seiner Begierde ist Maude Anandin. Maude ist eine rastlose Femme fatale, über die wir verhältnismäßig wenig erfahren. In ihr brennt ein Feuer, das sie wie eine Getriebene scheinen lässt: „Wie sie lebte, das war auch ein Sterben. Aber da war gleichzeitig Lust. In ihr steckte so viel Leben und Tod.“
Lang will durch Weynberg herausfinden, was er unternehmen muss, um sie zu bekommen. Das Problem: Maude sieht genau aus wie Hedy. Der traumatisierte Weynberg fühlt sich unweigerlich zu ihr hingezogen. Aber nicht nur das Trauma treibt ihn in die Arme von Gustav Lang, sondern auch die wirtschaftliche Abhängigkeit wird deutlich als Zwang markiert. Weynberg konnte sich dem bedrohlichen Auftreten des Konzernchefs entsprechend „nicht mehr aussuchen“, ob er den Auftrag annehmen wollte oder nicht. Das Geld machte ihn käuflich, obwohl er für den Mann „nur Verachtung übrig hatte“. Der daraus resultierende Selbsthass rechtfertigt den nächsten Schuss.
Während Weynberg die Hedy verkörpernde Maude beschattet, passiert ein großes Unglück, welches ihre beiden Schicksale aneinander bindet. Gejagt von Gustav Lang, der Bande eines ermordeten Kriminellen und der Polizei sind sie von nun an zusammen auf der Flucht. Ihr Ziel ist Neu-Qingdao, ein Ort, von dem niemand Genaues zu wissen scheint.
New York, Beijing und Neu-Qingdao
Wir befinden uns im ersten Viertel des Romans. Auf den folgenden 200 Seiten entfaltet sich dieses Wirrwarr in fesselnden Verfolgungen und spannungsreichen Duellen mit eindrücklich gezeichneten Charakteren. Ein düsteres Spektakel, das nicht selten Bilder evoziert, wie man sie gemeinhin aus Filmen von Robert Rodriguez kennt. Besonders zu Sin City ließen sich hervorragende Vergleiche anstellen.
An dem Namen des Zielortes, der meist asiatischen Mahlzeiten sowie der multikulturellen Bevölkerung wird deutlich, dass Otremba die Welt seines Romans unter globale chinesische Vorherrschaft gestellt hat. Bedenkt man, dass die dystopisch gesteigerten Phänomene aus Otrembas Dystopie alle einer kapitalistischen Weltordnung entspringen – zu der die Volksrepublik im sicherlich nicht widerspruchsfreien Antagonismus steht – wird die hiermit getätigte politische Aussage fraglich. Nicht zuletzt ähnelt Neu-Qingdao eher New York als Beijing. Da ein „Regime“ abseits der freilich kapitalistischen Konzerne im Roman keine Rolle spielt, mag diese Zukunftsprognose bloß auf die sich anbahnende politische Vorherrschaft Chinas zurückzuführen sein, die dystopisiert wird, ohne das angestrebte Ziel eines sozialistischen Staates ernsthaft zu erwägen. Dieses streitbare Urteil ist jedoch für die generelle Funktionsweise des Romans und die Übertragbarkeit der geschilderten Verhältnisse auf unsere kapitalistische Welt nicht weiter problematisch.
In diesem Rahmen ist wesentlicher, dass sich Weynbergs poetische Charakterzüge – oder was von ihnen übrig geblieben ist – immer wieder mit romantizistischen Merkmalen vermischen. Weynberg ist eigentlich kein Kämpfer, obwohl er ständig kämpft. Die Taten, zu denen er im Rahmen des oben erläuterten Konflikts gezwungen wird, plagen ihn. Obwohl er in den jeweiligen Situationen agiert wie ein kaltblütiger Auftragsmörder, wird er im Traum von seinen Opfern heimgesucht. Er musste sie töten, obwohl er es lieber nicht getan hätte. In Weynberg steckt so viel Gutes, von dem wir erfahren, weil wir als Leser seine herzerwärmenden Gedanken teilen, aber würde man nur seine Taten betrachten, käme auch nicht im entferntesten das Bild eines liebevollen Menschen auf. Solange der Konflikt des Romans ihn zum unromantischen Handeln zwingt, wird auch außerhalb des Romans deutlich, dass romantische Züge gegebenenfalls negiert werden müssen, um menschliches Überleben zu gewährleisten. Als scheiternder Romantiker belehrt er die Lesenden eines besseren. Hier fungiert das Romantische durch seine Negation als Wegweiser in eine annehmbarere Zukunft, in der liebevolle Regungen nicht mehr von benennbaren Faktoren verwehrt bleiben. An anderen Stellen schlägt das Romantische jedoch in Ideologie um: in Romantizismus.
Das Romantische zwischen Kritik und Ideologie
Auf ihrer Flucht geraten Weynberg und Maude beispielsweise in eine verlassene Stadt. Dort hat sich in einer kleinen ökologischen Nische die Tier- und Pflanzenwelt regeneriert. Es ist wie das Paradies: „Hinter einem verseuchten Gürtel war etwas gewachsen, in dem wieder Leben entstehen konnte. Wir sollten aus dem Paradies verschwinden, würden wir ihm doch nur den Tod bringen. Wie es immer geschah, wenn ein Mensch auftauchte.“
Aus diesen Zeilen spricht eine pauschale und romantisch verklärte Verurteilung „des Menschen“ als unhistorisches Gattungswesen, das qua Existenz auf die Zerstörung der Natur aus ist. Der Widerspruch zwischen Mensch und Natur erscheint hier derart unauflöslich, das jeweils nur das eine oder das andere möglich zu sein scheint. Als Resultat verlassen Weynberg und Maude das Paradies freiwillig, um einen anthropologischen Sündenfall zu vermeiden. Statt der Feindseligkeit eines geldgierigen Oligarchen versagt ihnen hier die eigene nahezu religiöse Naturverehrung das menschliche Überleben. Zwischen „den Menschen“ und „die Natur“ schiebt sich eine romantische Vorstellung der Unvereinbarkeit, ein Urbruch gleich der Ursünde, obwohl doch der Mensch untrennbar mit der Natur verbunden ist. Denn er muss von der Natur leben und sich gleichzeitig gegen ihre Gewalten wehren. Er muss in ihr sein und sich gleichzeitig von ihr abschirmen. Die Frage danach, wie sich dieser zur Auflösung verurteilte Widerspruch auflösen kann, ist für Weynberg unmöglich zu beantworten. Hier liegt seine Verblendung. Denn der Widerspruch muss sich auflösen, wenn der Mensch in der Natur leben will, wozu er eben verurteilt ist. Wenn man diesen Widerspruch für unauflöslich erklärt, hängt man auf ewig in einer Sphäre, die einem ewigen Fegefeuer vergleichbar ist und damit nichts anderes als die Hölle darstellt.
Es stellt sich berechtigterweise die Frage, wer die Natur in einen derart desolaten Zustand gebracht hat. Hier stößt man im Roman auf Ungenauigkeiten, die zu seiner größten Schwäche zählen. An einer Stelle wird die Hinfälligkeit einer gefundenen Landkarte mit den „Verschiebungen“ erklärt. Die Verschiebung von Kontinentalplatten vollzieht sich zumindest in unserer Welt ohne das Zutun des Menschen und resultiert bekanntlich in verheerenden Naturkatastrophen. In diesem Falle würde die Notwendigkeit der Naturbeherrschung durch den Menschen erst recht deutlich werden. An anderen Stellen heißt es jedoch: „Was wir Menschen aus dem Gesicht der Erde gemacht hatten. Narben waren da, die Haut unrein, voller Pickel, aber ihre Schönheit ließ sich noch erkennen. Ja, an manchen Stellen war die Erde schön. Dort, wo niemand war.“ Wieder an einer anderen Stelle kehrt sich die Naturverliebtheit noch stärker in Menschenhass: „Er war wohl überall giftig, dort, wo Menschen lebten. Wie eine Strafe.“ Später, als sie wieder auf einen vom Giftregen verschonten Urwald stoßen, verstärkt sich dieser Eindruck: „Ich hätte diesen Wald gerne meine Heimat genannt, war ich doch in einer Gegend groß geworden, aus der ich nur in Gift stehende Bäume und eine Umwelt kannte, die Natur zu nennen einen üblen Beigeschmack trug: Ja, das, was ich kannte, war die Natur. Es war die Natur des Menschen.“ Der Anteil des Menschen an der Zerstörung der Natur wird mehrheitlich auf „die Menschheit“ abgewälzt, obwohl bei der Einführung Gustav Langs die dafür nötige Macht konkret verortet wurde. Otremba benennt zwar klar den Schuldigen als Stellvertreter seiner Zunft, zieht aber in seiner pauschalen Verurteilung im Detail die falschen Konsequenzen.
Durch die romantischen Naturerfahrungen außerhalb der verseuchten Stadt hat Weynberg offenbar einen radikalen Bewusstseinswandel erfahren, der ihn tiefer in einen Romantizismus hineintreibt, den er sich als Ideologie zurechtlegt: „Etwas wurde mir bewusst. Diese Welt, so kümmerlich wie sie auch war, wurde nicht von Menschen beherrscht, die Geld hatten und Macht. Diese Welt wurde beherrscht von anderen Menschen, nämlich von denen, die man nicht zu fassen bekam, die anzogen und abstießen, die in der Lage waren, zu spielen. Diese Welt wurde beherrscht von den Verlorenen, jenen, die einen traurig machen konnten und ganz unberührt blieben von dieser Trauer.“ Macht erscheint plötzlich als zwischenmenschliches Sentiment und nicht mehr wie zu Beginn des Buches als materiell gesicherte Herrschaft und Unterdrückung.
Dass nur die Gemeinschaft im Gegensatz zur Einsamkeit den Menschen retten kann, gehört zu den fortschrittlichen Elementen des Romans. Ohne die Hilfe eines mysteriösen Mädchens namens Eindruck sowie der Familie ihres Freundes, den Chens, wären Weynberg und Maude verloren gewesen. Aber auch das Fortschrittliche kann sich in sein Gegenteil verkehren. Nämlich wenn die Gemeinschaft als Robinsonade funktioniert, welche den systematischen Charakter der Gesellschaft verschleiert. Diesem Verdacht muss der Roman sich aussetzen, wenn es heißt: „Da waren Leute wie Chens, wie Eindruck, die Inseln erschufen, auf denen man sein konnte.“
Die Chens tragen zwar Züge von Widerstandskämpfern, aber gleichzeitig auch Züge des Romantischen. Eindruck zum Beispiel sucht im Stile großer Abenteurer den Urwald nach Reliquien vergangener Epochen ab. Ob Weynberg in der Gemeinschaft widerständlerisch aufgeht oder seinen romantischen Charakter ausbaut, bleibt letztlich offen. Festzuhalten ist, dass der Romantizismus gleichzeitig Stärke und Schwäche des Romans ausmacht. Stärke ist sie dort, wo sie mit der Realität konfligiert. Hierbei bleibt das Romantische werkimmanent und erhält somit die Möglichkeit, sich selbst zu negieren. Es ist dann der romantische Charakter der Erzählung, in der das Romantische des Protagonisten zum Scheitern an der unerbittlichen Realität verurteilt ist. Solange die schlechte Welt den romantischen Protagonisten zum unromantischen Handeln zwingt, wird die Notwendigkeit des Handelns zur Problembewältigung in unserer Welt ästhetisch erfahrbar. In diesem Fall ist die sich selbst negierende Romantik als Zentrum einer fortschrittlichen Ästhetik zu sehen, wie Jakob Hayner in einem Essay überzeugend dargelegt hat. Schwäche ist sie hingegen dort, wo das Romantische in Romantizismus umschlägt und sich zur Ideologie vermauert. Dann bleibt das Romantische ein zahnloser Tiger.
Rezension von Lukas Schepers, 23. März 2021
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*Die Weynberg untergejubelten Zeilen sind häufig Versatzstücke aus Otrembas lyrischer Produktion als Sänger der Band MESSER. Die für den Roman titelgebenden Zeilen:
„Ich seh’ dich wie durch Nebel
Ich seh’ dich wie im Traum
Wir tauchen durch das Wasser
Und über uns der Schaum“
entspringen dem Lied Der Staub zwischen den Planeten, welcher auf der parallel zum Roman produzierten Platte Jalousie erschien.
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