Literaturkritik: “Zinkjungen” oder Der Schrei aus dem Nirgendwo

Die Bücher, die ich schreibe, sind Dokumente und zugleich ein Bild der Zeit. Ich sammle Details und Gefühle nicht nur aus einem einzelnen Menschenleben, sondern aus der ganzen Atmosphäre der Zeit, aus ihrem Raum, ihren Stimmen.

So beschreibt die in der Sowjetunion geborene Swetlana Alexijewitsch ihre Methode als Schriftstellerin. Das Buch „Zinkjungen“ deckt sich mit dieser Beschreibung und beinhaltet eine solche literarische Methode: es ist glaubwürdig porträtiertes Leid in leeren, zusammenhangslosen Räumen. Ein Blick auf die Erscheinungen ohne Blick für ihre Ursachen. Dabei begann die Autorin Alexijewitsch Interviews bereits während der Kriegszeit zu sammeln, die sie im „Zinkjungen“ kurz nach Beendigung des Afghanistankriegs 1989 veröffentlichen ließ.

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Das Buch gibt einerseits einen lebhaften Eindruck darüber, wie die Zivilgesellschaft und Soldaten innerhalb der Sowjetunion vor der Erfahrung des Afghanistankriegs in den 1980er Jahren über Krieg sprachen. Die Interviewpartner formulieren ein durch Heldenmut geprägtes Bild, das durch Geschichten aus dem „Vaterländischen Krieg“, dem Sieg der Sowjetunion gegen Nazideutschland und seine Verbündeten 1941-1945, stammt. Abenteuergeschichten, Kameradschaft und wahre Freundschaft, Triumph und Ehre, Sinnhaftigkeit und Erinnerungskultur bilden die Vorstellungen der Personen vor Kriegsbeginn ab, die Swetlana durch Interviews porträtiert.

Zinkjungen wurden die in Afghanistan gefallenen Soldaten der Sowjetunion genannt, die in Zinksärgen zurück in ihre Heimat transportiert wurden. Diese Leichen stehen sinnbildlich für den überwiegenden Fokus des Werkes. Denn neben den Vorstellungen, die zeitlich vor dem Afghanistankrieg in der sowjetischen Bevölkerung herrschten, gibt Alexijewitsch mittels ihrer Interviews vor Allem Zeugnis davon ab, welche Bilder Bürger der Sowjetunion beschreiben, die durch Kriegseinsätze oder verstorbene Angehörige im Afghanistankrieg direkt betroffen waren.

Es wird dabei von abgetrennten Körperteilen berichtet, von Gedärmen, blutigen Fleischbergen von Menschen, von Raserei durch Todesangst, Albträumen, Schmerz und Tränen, von Müttern neben zugeschweißten Särgen, oder das Gefühl in der Heimat nicht verstanden zu werden. Diese Eindrücke stoßen wie Blitze Abscheu hervor, machen Übel zumute, zwingen sich los zu machen und das Buch immer wieder wegzulegen. Krieg bedeutet Leid, auch dort, wo nicht geschossen wird. Krieg ist auch Zuhause, für die überlebenden Rückkehrer, die sich ausgeschlossen fühlen, die zurückgebliebenen Mütter, die noch hoffen oder bereits ihre toten Kinder beklagen; die stolz Wartenden, die sich Sorgenden, die Trauernden. Das will die Autorin Alexijewitsch deutlich machen.

Ein Einblick darin, was Krieg für eine Bevölkerung bedeutet, die Krieg in ihrer Heimat erleidet, bleibt hingegen aus. Die afghanische Bevölkerung bleibt außen vor. Diese  Entdeckung erscheint zunächst nebensächlich, denn es ist doch legitim, die Auswirkungen des Afghanistankriegs ausschließlich in der Sowjetunion zu porträtieren. Dennoch zeigt sich bei genauerem Hinsehen auf diese Entdeckung, warum dieses Buch nach dem ersten mal Weglegen auch nicht ein zweites Mal in die Hand genommen werden muss.

Ein Denkmal des Leids, das das Warum verblassen lässt

Denn neben den Beschreibungen des Leids, ist an diesem Buch besonders interessant, was es nicht zeigt: eine Analyse, oder zumindest eine grobe Aufarbeitung der Ursachen des Afghanistankriegs der 1980er Jahre. Es wird nicht wirklich gefragt, wie es zum Krieg kam, was die Interessen verschiedener Lager innerhalb der Sowjetunion, in Afghanistan oder in islamischen oder westlichen Staaten waren. Besonders fällt auf, dass die bedeutende Rolle Pakistans oder der USA nicht einmal erwähnt werden. Dem Buch fehlt jegliche Kontextuierung, es ist ein Haufen zusammenhangsloser Bilder, die sich nur um die Sowjetunion und ihre Einwohner drehen. Dadurch wird der Eindruck erreicht, der Afghanistankrieg sei ein allein innerhalb der Sowjetunion geborenes Unglück, welches auf die Strukturen im Arbeiterstaat zurückzuführen sei. Wechselbeziehungen außerhalb der Sowjetunion, außer dem Einmarsch in Afghanistan, bestehen für die Autorin nicht. Die “Atmosphäre der Zeit”, die sie einfangen will, erfährt Alexijewitsch offensichtlich lediglich im Raum der Sowjetunion. Sie ist bei ihren Überlegungen geistig gänzlich im Innern ihrer Landesgrenzen gefangen.

2013 erklärt das Kuratorium des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels Swetlana Alexijewitsch mit ihrem Werk Zinkjungen als Siegerin. Der Preis wird vom Börsenverein des deutschen Buchhandels vergeben. Es geschah zu einer Zeit, in der die Bundeswehr noch immer im Kriegseinsatz in Afghanistan stand (in dem sie noch immer steht), in der die Rüstungsexporte stetig anstiegen (und noch immer ansteigen) und die Folgewirkungen der milliardenschweren Unterstützung radikaler islamistischer Kräfte durch die US-Regierung (Operation Cyclone) und anschließender Militärangriffe in arabischen und persischen Ländern (Afghanistan, Irak, Libyen) gut dokumentiert sind und sich in ihrer Fortentwicklung bereits auf Syrien ausbreiteten. Ein Buch, das Leid zeigt, ohne sich die Mühe zu machen, die Entstehung dieses Leids zu thematisieren, steht als Sieger eines Friedenspreises des deutschen Buchhandels somit sinnbildlich für die Verschleierung des imperialistischen Kriegsfeldzuges der Westmächte in arabischen und persischen Ländern, die den Kommunismus dort vernichteten, um an seiner Stelle die imperialen Kapitalinteressen ihrer nationalen Kapitalisten (Rohstoffe wie z.B. Öl, Gas und Opiate, Rüstungsexporte etc.) zu platzieren und zu befriedigen.

Die fortschrittliche Saurrevolution und die andauernde Stille des Schweigens

Es verbleibt die Erkenntnis, dass eine kontextuierte Aufarbeitung des Afghanistankrieges der Sowjetunion, inklusive der Rolle der Westmächte, wie der USA oder islamischer Staaten, wie Pakistans, zwingend notwendig ist, um die Entstehung des gegenwärtigen Kriegszustandes im Orient zu verstehen. Ich stieß, angeregt und unbefriedigt durch das Buch von Alexijewitsch, auf die Saurrevolution in Afghanistan 1978, die auf den Sturz der Monarchie 1973 folgte. Sie wurde mit der Demokratischen Volkspartei Afghanistans (DVPA) an ihrer Spitze durchgeführt, eine kommunistische Partei, die sich an der Sowjetunion orientierte. Die afghanische Bevölkerung trug derzeit sehr deutlich das Joch einer feudalen Gesellschaft in sich: eine Analphabetenquote von knapp 90%, repressive Gesetze gegen Frauen und Kinder und eine kaum entwickelte Industrieproduktion. Entsprechend beinhalteten die ersten Verordnungen der neuen Regierung eine Schulpflicht für alle Jungen und Mädchen, ein Verbot, Kindern Zwangsehen zu diktieren, Religionsfreiheit oder der Aufbau einer öffentlichen Gesundheitsversorgung.

Die Machtübernahme der DVPA erfuhr im Land nicht nur Zuspruch, was die Gefahr einer Konterrevolution bedeutete und ein Hilfegesucht des jungen kommunistischen Staates Afghanistans an die Sowjetunion zur Folge hatte. Es stellte für beide Seiten ein Dilemma dar, das massivst durch die milliardenschwere Unterstützung islamistischer Gruppierungen in Afghanistan durch die USA und Pakistan verschärft wurde. Islamistische Gruppen, die schon damals insbesondere für ihre frauenhassende Politik bekannt waren, wurden als Konterrevolutionäre seitens USA und Pakistans unterstützt, trotz ihrer damals mangelhaften Repräsentanz in der Bevölkerung. Die Taliban gründete sich aus einigen dieser islamistischen Gruppen als Bündnis heraus und begründete zuletzt den Einmarsch der NATO-Truppen in Afghanistan, inklusive deutscher Soldaten. Bei der Recherche hing mir stets die Stille des Schweigens um diesen Krieg in den Ohren, die nicht nur andauert, sondern durch Ausweisungen von Kriegsflüchtlingen in der BRD zurück in den Bürgerkrieg Afghanistans aktuell eine höhere Qualität an Perversion erfährt.

In der Sowjetunion wurde der Krieg noch während der 80er Jahre mehrfach in der Kulturproduktion thematisiert. Ein populärer Vertreter der kritischen Stimme war Viktor Tsoi mit seiner Band „Kino“. Mit Liedern, wie „General“ oder „Mama ist Anarchie“, oder kunstvollen Filmproduktionen wie „Die Nadel“, wurden breite Kreise der Zivilbevölkerung zu einer Auseinandersetzung mit dem Krieg gebracht. Tsoi galt nicht nur unter der jungen Sowjetbevölkerung als eine populäre, kritische Stimme; in Deutschland verbleibt indes den Menschen nur das Warten auf eine Aufarbeitung des Afghanistankrieges, geschweige denn auf öffentlichkeitswirksame kritische Aufarbeitung seitens Kulturschaffender. Der Afghanistankrieg Deutschlands bleibt für den Großteil der Zivilgesellschaft in Deutschland ein schwarzer Fleck der Geschichte und reiht sich somit neben dem Jugoslawienkrieg der 1990er ein.

igla0Filmplakat von “Die Nadel”, russisch “Igla”, 1988

Nicht nur deshalb gilt es das an den Kriegsrückkehrer und Schriftsteller Wolfgang Borchert angelehnte Epigramm zu W.B. zu erinnern:

Er schrieb über die Wahrheit,
weil er den Krieg erlebte.
Wir leben vom Krieg,
darum verachten wir die Wahrheit.

 

 

Von Andrej Bill, 8. Mai ’19

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