Warum Stahl?

Ein paar Gedanken über Bewusstsein, Ideale und einen Kämpfer für den Fortschritt. Angelehnt an den Roman “Wie der Stahl gehärtet wurde” von Nikolai Ostrowski.

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Einst wurden seine Helden in einem Teil der Welt zu Vorbildern ganzer Generationen von Heranwachsenden, heute wird der Name Nikolai Ostrowski wohl selbst literaturaffinen jungen Menschen kaum noch was sagen. An der historischen Überholtheit seines Werkes liegt das nicht. Eher an der Schwäche der fortschrittlichen Kräfte.

Der „neue Mensch“ als Produkt der Revolution

Sowohl der Autor als auch der Mensch Nikolai Ostrowski sind Produkte der großen gesellschaftlichen Umwälzungen, die mit der siegreichen Oktoberrevolution 1917 in Russland ihren Anfang nahmen. Aus armen Verhältnissen stammend erwartete den jungen Ostrowski ein Leben in materieller Ausbeutung und geistiger Unterdrückung, als der Kampf für eine Gesellschaftsordnung jenseits des Kapitalismus auch sein kleines Dorf in der Ukraine erreichte. Die Chance ergreifend, seinen individuellen Protest gegen die ungerechten Zustände in die Teilnahme am kollektiven Kampf zu überführen, tritt er mit gerade einmal fünfzehn Jahren in die Rote Armee ein. Von da an sind Leben und Kampf für ihn Synonyme. Ein Leben ohne die Teilnahme an der gesellschaftlichen Entwicklung, die in einer weiterhin vom Klassenkonflikt dominierten Welt stets einen Kampf darstellte, war für Ostrowski nicht mehr vorstellbar. Als ihn eine schwere Krankheit bereits mit 22 Jahren nahezu bewegungsunfähig ans Bett kettet und er kurze Zeit später vollständig erblindet, wird das Schreiben (bzw. Diktieren) für Ostrowski die Luft zum Atmen. Bis er 1936 im Alter von 32 Jahren stirbt, sind zwei Romane, die millionenfach gedruckt werden, Ergebnis dieser zweiten Phase seines Lebens bzw. Kampfes.

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Soweit die wahrscheinlich jedem ehemaligen DDR-Bürger bekannte Geschichte des Autors, dessen autobiographisch geprägter Roman „Wie der Stahl gehärtet wurde“ Pflichtlektüre in der achten Klasse der ostdeutschen Schulen war. An eine solche Verwendung seines Buches hätte Ostrowski vermutlich im Traum nicht gedacht, war er doch schon überglücklich, als der erste Teil des Debütromans in einer bescheidenen Auflage von 10.000 Stück 1932 in Moskau gedruckt wurde. Doch mit der Darstellung eines Pubertierenden, der sich im Prozess der Persönlichkeitsentwicklung zu einem „neuen Menschen“ entwickelt, traf Ostrowski den Nerv nicht nur seiner Zeit. Die Wirkkraft des Romans war enorm und bedeutend stärker als die seines zweiten, leider unvollendet gebliebenen Werkes „Die Sturmgeborenen“, in welchem die Charakterisierung von Unterdrückungsverhältnissen und Unterdrückern in den Vordergrund rückte. Die Thematik aus „Wie der Stahl gehärtet wurde“ ist historisch brisanter und beinhaltet die wohl heikelste Frage in der Auseinandersetzung mit seinem Werk. Entsteht im – nach Marx nur in Form einer Revolution möglichen – Übergang der kapitalistischen Gesellschaftsordnung zur sozialistischen und im anschließenden Aufbau der neuen Ordnung tatsächlich ein „neuer Mensch“? Und wenn ja, was kennzeichnet diesen?
Schon die Anführungszeichen deuten darauf hin, dass das Attribut „neu“ in diesem Zusammenhang keine Klarheit über die Bedeutung schafft und einen denkbar weiten Raum für Fehlinterpretationen lässt. Marxistisch verstanden kann damit selbstverständlich kein genetisch, d.h. physisch oder psychisch anders veranlagter Mensch gemeint sein. Genauso wenig darf das „Neue“ als vollkommener Bruch mit dem „Alten“ interpretiert werden, was mit einem dialektischen Verständnis von Entwicklung und Veränderung nicht zu vereinbaren wäre. Dass sich die Arbeiterklasse in der Revolution „den ganzen alten Dreck“ vom Halse schaffen muss 1, widerspricht keineswegs der Bewahrung des fortschrittlichen „sauberen“ Alten. Damit einhergehend verbieten sich auch starre Einteilungen in „neue“ und „alte“ Menschen, welche dem von Widersprüchen nicht freien Prozess der fortschreitenden Entwicklung, trotz der Notwendigkeit eines Bruches, nicht gerecht würde. Auch hier gilt es, wie bei der Betrachtung der gesamten menschlichen Entwicklung, weder Evolution noch Revolution zu leugnen, sondern Kontinuität und Bruch als eine Einheit zu verstehen.
Was nach diesen Erläuterungen bleibt, ist die an sich banale Erkenntnis, dass es zur Verwirklichung einer klassenlosen Gesellschaft eines neu denkenden Menschen bedarf. Wenn Marx die zukünftige Gesellschaft mit der prägnanten Formel „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“ beschreibt 2, dann ist klar, dass hiermit nicht die von der kapitalistischen Warengesellschaft reproduzierten Bedürfnisse und Denkweisen gemeint sein können. Diese basiert auf einer Produktionsweise, die fortwährend einen Widerspruch zwischen Individuum und Gesellschaft erzeugt, indem die Menschen zwar gesellschaftlich, d.h. für die Gemeinschaft produzieren, aber die Produkte individuell von den Kapitalisten angeeignet werden. Dem entspricht auch die Verteilung des gemeinschaftlich Erzeugten nicht nach der tatsächlichen Nachfrage, sondern der zahlungsfähigen Nachfrage. Arbeit ist so für die lohnabhängige, d.h. zum warenförmigen Verkauf ihrer Arbeitskraft gezwungene Bevölkerung nicht „erstes Lebensbedürfnis“ 3, sondern bloßes Mittel zum Zweck. Da weder Produktion noch Verteilung gemeinschaftlich geplant werden, ist zentraler Leitgedanke auch der Ausgebeuteten zunächst der eigene Vorteil, getrennt von dessen gesellschaftlichen Voraussetzungen und manifestiert im Privateigentum. Dominiert ein solches Bewusstsein, ist jedoch der Aufbau und die Durchsetzung einer am Wohl Aller orientierten Produktionsweise auf Dauer nicht oder nur um den Preis des Fernhaltens der Bevölkerungsmehrheit von politischen Entscheidungsprozessen möglich. Das von Marx und Engels als „niedere Phase des Kommunismus“ bezeichnete gesellschaftliche Übergangsstadium, in dem die Produkte noch nicht nach den Bedürfnissen, sondern der Arbeitsleistung verteilt werden, kann nur als Phase prolongierter Bewusstseinsentwicklung verstanden werden. Es bleibt eine Notwendigkeit, dass sich auf der Grundlage materieller Veränderungen ein neues Bewusstsein etabliert, bei dem der Widerspruch zwischen Individuum und Gesellschaft zunehmend aufgehoben wird. In diesem Kontext hat der Begriff des „neuen Menschen“ seine gesellschaftlich-historische Berechtigung.

Die Kraft, vor dem Leben nicht zu kapitulieren

Aber wie ist darauf aufbauend der von Ostrowski als Idealtypus eines neu, weil sozialistisch denkenden Menschen konstruierte Hauptcharakter Pawel Kortschagin aus „Wie der Stahl gehärtet wurde“ zu beurteilen?
Bereits der Titel lässt bei all jenen, die an der Entlarvung des Romans als vermeintlichem Propagandawerk tüfteln, die Herzen höherschlagen. Tatsächlich hat dieser, wie sich im Laufe des Buches herausstellt, nichts mit Metallverarbeitung zu tun, sondern ist eine Metapher für den Entwicklungsprozess hin zu einem neu denkenden Menschen. Dass dieser mit Stahl verglichen wird, ist für Kritiker das bewusste oder unbewusste Eingeständnis Ostrowskis, Eigenschaften des sozialistischen Menschen wären gefühllose Härte, Starrsinn und Unbelehrbarkeit, eben „Betonköpfe“, wie es in der klassischen antikommunistischen Polemik stets heißt. Besonders Aufmerksame könnten gar auf die Idee kommen, der Name des damaligen Generalsekretärs der KPdSU Stalin („Der Stählerne“) habe den Autor zu dieser Metapher verleitet, wofür es allerdings keine Anhaltspunkte gibt. Bleibt die Frage, warum Ostrowski sich für diesen Titel entschied. Zunächst einmal lebte er in einer Zeit als die Industrialisierung für die junge Sowjetunion die vordringlichste Aufgabe und die Erzeugung von Stahl Symbol bzw. Maßstab gesellschaftlichen Fortschritts war. Dieses Symbol metaphorisch auch für das Pendant der fortschreitenden Bewusstseinsentwicklung der Menschen zu verwenden lag nahe. Ostrowski selbst bemerkte zudem, dass der Prozess des Härtens, die starke Erhitzung und abschließende Abschreckung des Stahls, den Kampf und die Prüfungen seiner Generation darstelle. 4 Den auf die Revolution folgenden Bürgerkrieg als „Erhitzen“ zu betrachten und den anschließenden schweren Aufbau der Wirtschaft als gleichsam belastendes „Abschrecken/Abkühlen“ erscheint als nachvollziehbare Symbolik.
Mit dem Resultat, gehärtetem Stahl, verbindet der Autor Widerstandsfähigkeit und die Stärke, „vor dem Leben nicht zu kapitulieren“. 5 Konkret kann dies nur bedeuten, dass ein mit der Gesellschaft in Einklang stehendes Bewusstsein, worunter vor allem auch auf das Kollektiv ausgerichtete Bedürfnisse fallen, die mentale Stärke verleiht, sowohl persönliche Probleme wie z.B. Krankheit, Verlust oder Angst hiervor zu überwinden als auch die aus den gesellschaftlichen Aufgaben erwachsenen Schwierigkeiten zu lösen. Als prominentes Beispiel dafür, wie wichtig diese Stärke in der damaligen Zeit war, sei Doktor Schiwago aus dem gleichnamigen, mit dem Nobelpreis ausgezeichneten Werk von Boris Pasternak angeführt. Während der Sturm historischer Umbrüche über das Land fegt, klammert sich Schiwago krampfhaft an das kleine Floß seines engen bürgerlichen Horizonts. Sich der vorgehenden gesellschaftlichen Veränderungen nicht im mindesten bewusst, bleiben die Ereignisse für ihn ein Aufeinanderfolgen von „Schicksalsschlägen“. Dem Alten nachtrauernd, schwankt er zwischen geradezu lächerlicher Naturromantik und apathischer Resignation. Während die revolutionären Kämpfe das Bewusstsein des Arbeiters Kortschagin zu Stahl härteten, rostete das des Bürgers Schiwago. Es war die Zeit der Arbeiterklasse. Schiwago vermag nicht über seinen Klassenhorizont hinwegzusehen.

Ein Regentropfen, in dem sich die Sonne der Partei spiegelt

Wie stellt sich Ostrowski konkret den gehärteten Stahl, sprich das neue Bewusstsein vor? Was ist das Neue am Denken und Handeln der Hauptfigur Pawel Kortschagin?

Ostro1In seiner Jugend stand er der Gesellschaft der halb-feudalen Zarenordnung stets feindlich gegenüber: in der Schule dem Popen, der ihn für die Verteidigung einer wissenschaftlichen Position der Schule verwies; bei der Arbeit als Gehilfe in einem Bahnhofsrestaurant den Leitern, die den nicht einmal 12jährigen rücksichtslos ausbeuteten. Seine Einstellung zur Gesellschaft wurde geprägt durch den wichtigsten Vermittlungsprozess mit dieser: die Arbeit. Da diese für die Masse der Bevölkerung im Kapitalismus die Unterordnung unter die Macht eines anderen und dessen Profitinteressen bedeutet, eigene Entfaltung mithin kaum eine Rolle spielt, ist der „Rückzug ins Privatleben“ ein klassisches Phänomen dieser Gesellschaftsordnung, sei es 1917 in Russland oder 2017 in Deutschland.
Im kollektiven Widerstand gegen die alte, verhasste Gesellschaft spürt Kortschagin erstmals die Macht, etwas an seiner eigenen Lebenssituation verändern zu können. War er bisher im Verhältnis zur Gesellschaft zum stummen Empfänger von in seinen Augen ungerechten Befehlen degradiert, verleiht ihm die Teilnahme am Kampf auf Seiten der Roten Armee eine Stimme. Ihm wird aber auch bewusst, dass diese Stimme, das so befreiende Gefühl, aktiv in gesellschaftliche Prozesse eingreifen und damit seine eigenen Lebensumstände (mit-)gestalten zu können, vollkommen von seiner Mitgliedschaft und Aktivität in der Gruppe abhängig, mithin nur durch diese vermittelt ist. Die Arbeit im und für das Kollektiv wird für ihn, der die bitteren Erfahrungen seiner gesellschaftlichen Isolation noch im Hinterkopf hat, zum handlungsleitenden Bedürfnis. Anschaulichste Manifestation seiner Bewusstseinsveränderung ist wiederum seine Einstellung zur Arbeit. Obwohl teilweise körperlich sogar noch anstrengender als jene in der alten Zeit, empfindet er nun Stolz bei der Arbeit, leistet freiwillig mehr als von ihm erwartet wird und sorgt sich um die Qualität der Maschinen. Auf der materiellen Grundlage des gesellschaftlichen Eigentums an Produktionsmitteln betrachtet er diese als sein Eigentum und die Gesellschaft als „seine“ Gesellschaft. Er habe das „Empfinden, eine Einzelperson zu sein“, verloren, resümiert Ostrowski an einer Stelle über seinen jungen Protagonisten. Ohne negativen Unterton. Eine prosaische Feststellung.
Doch sind „Kollektiv“ und „Gesellschaft“ zunächst abstrakte Begriffe, es bedarf einer konkreten Organisation, die diese repräsentiert. Das ist für Kortschagin die Partei der Bolschewiki, die Kommunistische Partei. Überzeugt davon, dass diese die objektiven Interessen der absoluten Bevölkerungsmehrheit, der Arbeiter und Bauern, vertritt, d.h. den Kampf für eine Gesellschaftsordnung führt, in der sich jeder ausbeutungsfrei bestmöglich entfalten kann, identifiziert er sich vollständig mit der Partei und dem von ihr geleiteten Staat. So erweitert sich das bereits weiter oben Gesagte „kein Leben ohne Kampf“ um den Zusatz „kein Kampf ohne Partei“, woraus sich die für Ostrowski/Kortschagin prägende Einstellung „kein Leben ohne Partei“ ergibt. Solange sein Herz schlage, wird ihn niemanden von der Partei trennen können. Daran änderte für den realen Ostrowski auch der zweijährige Ausschluss aufgrund formeller Fehler nichts. Er sah sich als „Regentropfen, in dem sich die Sonne der Partei“ spiegle.6

Ideal und Wirklichkeit

Aber ist dies nicht statt Ideal eines neuen Bewusstseins zu sein in Wirklichkeit Ausdruck und Sinnbild eines Fanatismus, den bürgerliche Historiker für vermeintliche und tatsächliche Fehlentwicklungen in der Sowjetunion verantwortlich machen?
Um diese Frage zu beantworten, muss noch einmal auf das bereits mehrfach erwähnte Verhältnis von Gesellschaft und Individuum eingegangen werden. Der gesellschaftliche Charakter des Lebens der Menschen auf ihrer heutigen ökonomischen Entwicklungsstufe, ihre allseitige Abhängigkeit voneinander, ist nichts von Kommunisten konstruiertes. Von der Gesellschaftlichkeit des eigenen Daseins überzeugt zu sein und entsprechend zu handeln, heißt daher nicht, eine Idee übernommen zu haben, sondern sich etwas bewusstgeworden zu sein. Doch verläuft dieser Erkenntnisprozess genau wie jeder wirkliche Fortschritt in den materiellen Verhältnissen weder reibungslos noch widerspruchsfrei. So ist es z.B. widersprüchlich, dass Ostrowski sich mit der Partei identifiziert, weil er über diese aktiv am gesellschaftlichen Entwicklungsprozess teilnehmen kann, diese Identifikation bei ihm aber zu einer recht unkritischen Übernahme von Parteipositionen führt, was dem Anspruch aktiver Teilnahme gerade entgegensteht. Beispielhaft ist hierfür das Kapitel über den Kampf gegen die „trotzkistische“ Opposition. Hierin versteigt sich Ostrowski zu der Aussage, die „alte bolschewistische Garde“ hätte „mit Genossen Lenin an der Spitze den unerbittlichen Kampf […] gegen Trotzki“ geführt. Er hätte im Grunde wissen müssen, dass Lenin nach dem Oktober 1917 keinen solchen Kampf gegen den organisatorischen Kopf der Oktoberrevolution und Gründer der Roten Armee führte. Sich hingegen lediglich auf die Zeit davor zu beziehen, ist für eine solche Aussage wohl kaum eine Rechtfertigung. Das Kapitel strotzt vor simpler Polemik und wird dem tatsächlichen Charakter der damaligen Auseinandersetzungen, wie sie auch immer bewertet werden, nur sehr wenig gerecht. So wichtig die Unterordnung unter kollektive Beschlüsse für die Handlungsfähigkeit einer kommunistischen Partei ist, so wichtig ist die kritische Beteiligung aller Mitglieder für das Erfüllen des Anspruches, tatsächlich die Interessen der arbeitenden Bevölkerung zu vertreten. Allerdings muss betont werden, dass der Ausgleich zwischen diesen beiden Bestrebungen, Wahrung der Einheit der Partei und kritisches Hinterfragen von Positionen und Aktivitäten, ein Ideal darstellt, dem sich selbst unter günstigen historischen Bedingungen – die damals nicht herrschten – nur angenähert werden kann.
Das gleiche gilt auch für einen zweiten Aspekt in Kortschagins Denken, der dem heutigen Leser befremdlich erscheinen mag: das übertriebene Zurückstellen bis hin zur Leugnung individueller Bedürfnisse. Zwar bricht er im Laufe der Zeit seinen eigenen Vorsatz, kein Mädchen zu küssen, bis die Weltrevolution nicht gesiegt hat, doch bleibt die Einstellung, dass das Persönliche im Vergleich zur Sache der Allgemeinheit völlig in den Hintergrund zu treten habe. Hier könnte richtigerweise angemerkt werden, dass keine Unvereinbarkeit zwischen individuellen Interessen und den auf die Allgemeinheit gerichteten besteht. Denn wie Marx das Verhältnis zutreffend beschreibt, ist der Mensch ein Tier, das „nur in der Gesellschaft sich vereinzeln kann“. 7 Daher bleibt das Interesse der Allgemeinheit eine abstrakte Hülle, wenn dahinter nicht die individuellen aber gesellschaftlich bedingten Interessen der einzelnen Menschen gesehen werden.
Aber weder die eine noch die andere Widersprüchlichkeit ändern etwas an der Fortschrittlichkeit von Kortschagins Denken, nur ist es eben nicht das vom Autor angedachte Ideal eines neuen Bewusstseins, sondern ein wirkliches, damit zwangsläufig mit Fehlern und Widersprüchen behaftetes, neues Bewusstsein. Letztlich sind die Einstellungen des Hauptcharakters zu Partei und Individualität Widerspiegelungen der schwierigen objektiven Bedingungen, unter denen sich die junge Sowjetunion damals entwickelte. Die ökonomische Rückständigkeit des agrarisch geprägten Landes, die Isolierung infolge des Ausbleibens der Weltrevolution, die ständige Bedrohung seitens der imperialistischen Großmächte und der ehemals herrschenden Klasse im Innern – all das führte zu einer Lage, in der die Einheit und straffe Führung der Kommunistischen Partei zu einer Überlebensnotwendigkeit wurde. Im Zuge gewaltiger gesellschaftlicher Umwälzungen und ihrer Bedrohung treten die Rechte des Individuums stets in den Hintergrund. Das galt sowohl für tatsächliche und vermeintliche Feinde, als auch für jene relativ geringe Anzahl bewusster Revolutionäre, denen in dieser hektischen Zeit Aufgaben abverlangt wurden, die nur bei einer vollständigen Identifikation mit der Sache und dem Ziel zu bewältigen waren. Diese Bedingungen härtesten (Klassen-)Kampfes formten das Bewusstsein Pawel Kortschagins, ein in seiner tiefen Überzeugung von der Richtigkeit des Kampfes radikales Bewusstsein. Es aufgrund in ihren Ursachen erklärbarer Momente der Irrationalität, des Ausuferns an sich richtiger Einstellungen, gleich als fanatisch zu bezeichnen, ist wohl kaum gerechtfertigt. Zumal entscheidendes Kriterium sein sollte, ob der von ihm geführte Kampf tatsächlich fortschrittlich war. Dass es in dieser historischen Phase auch zu Verzerrungen und Verfehlungen kam, das Maß notwendiger Gewalt teilweise weit überschritten wurde, ist unbestreitbar. Doch ändert das grundsätzlich nichts daran, dass es sich bei dem Aufbau und der Verteidigung sozialistischer Eigentumsverhältnisse, was u.a. Industrialisierung, landwirtschaftliche Kollektivierung, Bildung der Bevölkerung, Kampf gegen Faschismus bedeutete, um etwas historisch extrem Fortschrittliches handelte. 8 Und bei Ostrowski nicht um das Ideal eines Kämpfers, sondern einen wirklichen Kämpfer für den Fortschritt.

Historisch überlebt?

Doch wenn die Geschichte in diesem Maße bestimmt ist durch die konkreten Umstände der damaligen Zeit, besitzt das Werk dann heute überhaupt noch Aktualität?
Es kann nicht geleugnet werden, dass sich die konkrete Gestaltung der heutigen Klassengesellschaft in hohem Maße von jener, in der Ostrowski aufwuchs, unterscheidet. Von einer „Konsumgesellschaft“, die auch unter der arbeitenden Bevölkerung fortwährend das Bedürfnis nach Aneignung neuer Waren in immer größerer Menge erzeugt und in gewissem Maße befriedigt, konnte damals noch keine Rede sein. Eine Identifikation oder Persönlichkeitsbildung über das Privateigentum war aufgrund des schlichten Fehlens relevanten Besitzes kaum ausgeprägt. Freilich gilt dies nicht für die Landbevölkerung, welche sich in hohem Maße über das Eigentum an ihrem Boden oder Hof definierte. Das ist historisch zwar von enormer Relevanz, lebten im damaligen Russland doch fast 90% der Menschen auf dem Land, doch für die heutigen Verhältnisse in den Industriestaaten vernachlässigbar. Ein grundlegend anderer Aspekt ist, dass es für den jungen Kortschagin wie für den Großteil der damaligen Arbeiterklasse kaum gesellschaftliche Teilhabemöglichkeiten gab. Betriebsräte, der Abschluss von Tarifverträgen oder auch die parlamentarische Demokratie ändern zwar nichts am Klassencharakter der Gesellschaft, verschleiern diesen aber. Kollektive Machtausübung ist in engen Grenzen und sinkender Tendenz für die Lohnabhängigen auch im jetzigen System schon möglich. Das dämpft in gewissem Maße den Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Produktion und kapitalistischer Aneignung und verlangsamt so dessen Zuspitzung.
Doch allein die steigende Anzahl von psychischen Krankheiten (Depression, Burnout, Suchtprobleme) und die zunehmende Perspektivlosigkeit und -angst gerade unter jungen Lohnabhängigen zeigen anschaulich, dass die beschränkten Mitbestimmungsmöglichkeiten dem Widerspruch zwischen Individuum und Gesellschaft keinesfalls die Grundlage entzogen haben und die Konsumgesellschaft die Folgen dessen wenig erträglicher macht. Ständig auf sich selbst zurückgeworfen, ohne wirkliche Einflussmöglichkeiten auf gesellschaftliche Entwicklungen, gezwungen mit der eigenen Arbeit und dem Konsum ein zerstörerisches System und die eigene Ausbeutung zu reproduzieren, verzweifeln immer mehr Arbeitende an der fehlenden Aussicht auf Veränderung, der scheinbaren Unmöglichkeit eines gesicherten, sinnstiftenden Lebens. Angesichts dessen sollte die Geschichte eines jungen Menschen, ja einer ganzen Generation, die etwas verändert hat, die ein System aufbaute, dass trotz aller Fehler die Möglichkeit eines gesicherten, erfüllten Lebens für die arbeitende Bevölkerung bewiesen hat, allen Ausgebeuteten auch heute noch Kraft geben können. Und sollte am Ende der bittere Gedanke an das Scheitern, aber auch die Fehler dieses ersten Versuches die Kraft wieder zu entziehen drohen: Hat der Absturz des ersten, noch unvollkommenen Flugzeuges der Brüder Wright etwa die Unmöglichkeit des Fliegens bewiesen?

Text von Daniel Polzin, Illustration von Ursula (Becci) Bier, 1. Feb’19

 

 


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Siehe K. Marx, Deutsche Ideologie, MEW Band 3, S. 70

Siehe K.Marx, Kritik des Gothaer Programms, MEW Band 19, S.21

ebenda

Siehe R. Ostrowskaja in: „Nikolai Ostrowski: Leben und Kampf eines Unbeugsamen. Biographie“, S. 172

5 ebenda

6 ebenda, S. 300

7 Siehe K. Marx, Einleitung (zur Kritik der Politischen Ökonomie), MEW Band 13, S. 615

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