Der alte Maler Kurt Kobald und sein langjähriger Freund und Historiker Gustav Golev tauschten sich eines Nachmittags erneut über ihre gemeinsame Studienzeit aus. Besonders ihre vereinzelten Streiche waren gerne Gesprächsthema. „Ich weiß es noch genau“, setzte Gustav Golev an, „man gab dir den Auftrag ein Foyer mit einem Kunstwerk im Stile des Surrealismus zu schmücken. Du aber maltest ein Werk, basierend auf einer Mixtur von Fresken der italienischen Renaissance und Motiven des sozialistischen Realismus – ähnlich einem Diego Rivera.“ „Ganz richtig“, bestätigte ihm sein Gegenüber. „Zunächst war es dem Dekanat eine lästige Angelegenheit und man ließ mich einfach schaffen. Bei der Premiere gab das schließlich einen Aufruhr!“ „Ich weiß, Kurt, und ich erinnere mich noch an deine Verteidigung: ‚Was ist für den Verstand die Verelendung mancher Gesellschaftsgruppen angesichts unseres Warenüberflusses sonst, wenn nicht surreal!‘ Einfach grandios!“ „Es war wirklich ein gelungenes Werk. Man übermalte es erst zwei Jahre später, der studentischen Organisation unseres Spektrums sei Dank. Aber auch an dein Werk in der städtischen Bibliothek erinnere ich mich. Klebtest du nicht in die hiesigen Geschichtsbücher über Faschismus Textauszüge von sozialistischen Historikern?“ „Ja, Kurt, über die Verflechtung kapitalistischer Produktionsweisen mit der Etablierung faschistischer Gruppen in der Weimarer Republik.“ „Genau, das war es! Ach, das waren Zeiten.“
„Aber Kurt, gelten Sie denn nicht noch immer?“, fuhr Gustav Golev fort. „Nehmen wir doch als Beispiel ein Buch; stets sage ich mir, ganz gleich welche Schrift man auch liest, man muss zum ständigen Schlagabtausch bereit sein. Sich den Ideologien in all den Worten vergegenwärtigen. Man muss Schläge des Autors kommen sehen, sie betrachten, verstehen und versuchen zu parieren. Setzt der Schlag dennoch zu, so misslang die Verteidigung. So hat der Schlag etwas für sich. Solch ein Wirkungstreffer ist gestattet, darf verwirren, schmerzen und zuletzt kann dem Austeilenden ein Sieg zugesprochen werden. Vorübergehend versteht sich. Pariert man den Schlag jedoch, so darf sein ‚Verfasser‘ zerfetzt werden, gnadenlos; es gibt genug Dummheit! Sie ist das Letzte, das verschont werden sollte. Zerfetzen muss man sie! Das geht nur durch präzise Schläge, die auch eintreffen, zutreffen, wie auch immer. Du verstehst.“
„Doch Gustav, ganz deiner Meinung! Nur weißt du, ich male heute andere Bilder… Aber sicherlich, zum Schluss bleibt nur die kritisch reflektierte, eigene Wahrheit.“
„Nun, das mit den anderen Bildern mag stimmen, mir fehlt da zugegeben der Kunstverstand. Doch das mit der eigenen Wahrheit verstehe ich, das kann wohl so sein, nur hat sie nach solch kritischer Prozedur nicht auch den Anspruch einer allgemeineren Wahrheit, einem Mehr an Wahrheit! Ach, das erinnert mich. Ich muss später zu einer Gerichtsverhandlung, aber das ist ja einerlei.“
Kurt Kobald, der seinen Freund gut kannte, wusste wohl um die politische Streitlust seines Gegenübers. Gescheiterte gerichtliche Klagen gegen die Einseitigkeit von Geschichtsbüchern in der Schule, gegen strukturelle Probleme bei der Ausbildung von Geschichtslehrern, die seiner Meinung nach zu deren Unterqualifizierung führe oder Rechtsstreitigkeiten mit Mitarbeitern wegen seiner inhaltlichen Positionierungen als Museumsführer, führten stets zu verlorenen Gerichtsverfahren. Der letzte Streit mit seinen Kollegen brachte ihm zuletzt seine Entlassung ein. Obwohl ihm seine Museumszuhörer stets gebannt und oft zustimmend zuhörten, war er nicht sehr unzufrieden damit, denn er könne unter solchen Kollegen nicht länger atmen, wie er erklärte. Kurt Kobald erschien sein Freund manchmal wie ein tausendfach niedergeschlagener Kämpfer, der in seinen Gefechten stets verliert und dennoch wieder aufsteht. Seinem persönlichen Sinn für Recht und Ehre wegen. Jedenfalls überraschte ihn angesichts seiner Erfahrung mit seinem Freund die erwähnte Verhandlung nicht sonderlich und er entschied zunächst Tee zu servieren.
Sie wechselten in den kleinen Saal des Hauses und gingen einen kurzen Korridor entlang. Es hingen dort Kobalds neusten Malereien aus, die für moderne Pinakotheken oder Kunstmuseen angedacht waren. Nach ein paar anerkennenden Worten Gustav Golevs, wies der andere diese als Schmeicheleien zurück. Er wisse um die Mittelmäßigkeit seiner jüngsten Werke. Es fehle ihm schlicht an Inspiration. Vielleicht müsse er erneut ins Ausland, sich von seinem bekannten Umfeld entwöhnen, um bei seiner Rückkehr erholt und scharfäugiger neu anzusetzen. Beim Tee spielten die Freunde einige Runden ‚Durak‘, ein Spiel das Golev Kobald einst zu Studienzeiten zeigte. Seitdem verging kaum ein Treffen ohne ein paar Runden zu legen, wobei sich beide eigentlich nicht groß ereiferten, sondern die Zeit nutzten, ihre Gedanken rund um ihren Freund zu erneuern und zu sortieren.
„Du hast also eine Gerichtsverhandlung“, brach Kurt Kobald das Schweigen. „Worum geht es denn?“
„Ein leitender Angestellter einer Leiharbeitsfirma beschimpfte mich als faulen Gelehrten, der sich auf Kosten der Gesellschaft vergnüge.“
„Ganz richtig ihn anzuzeigen. Eine Unverschämtheit, solch eine Beleidigung!“
Golev schien kurz abwesend in Gedanken zu sein, so als würde er innerlich Notiz führen. Bald wieder anwesend sagte er mit etwas gedämpfter Stimme: „Nun ja, das stimmt wohl. Allerdings handelt es sich bei dieser Verhandlung um einen anderen Sachverhalt.“
„Zeige Du ihn an, Gustav! Habe kein Erbarmen mit solchen Leuten. Diese ständige Diffamierung…“
„Ja ich weiß, Kurt, und ich danke Dir für Deinen Impuls.“
„Ach Gustav“, fügte der Freund liebenswürdig ein, „ich selbst kenne doch Deine Lage. Auch mich quälen überall Ignoranz und ihre Unverschämtheit gegenüber meinen Werken. Dabei schaffe ich sie doch für die Menschen! Aber sag, worum handelt es sich dann heute?“
„Nun ja, also Kurt, ich sage es Dir einfach gerade heraus. Also dieser Ignorant, dieser unterwürfige Köter, der es um die täglichen Ungerechtigkeiten auf dem Arbeitsmarkt eigentlich besser wissen müsste, erfuhr selbstverständlich eine Antwort von mir. Ich erklärte ihm mein Recht auf Vergütung, zumindest zum Niveau meines Arbeitslosengeldes und verwies auf die zunehmend schlechteren Arbeitsbedingungen. Nun lässt sich nicht unschwer die Frage erschließen, wer von der Verschlechterung der einen Gruppe denn profitiere?“
„Ich sehe worauf es hinausläuft, Gustav, bin ganz bei dir.“
„Also sagte ich ihm, dass es vermessen sei, mich für unzumutbare Zustände und Entlohnungen anzugreifen. Er solle lieber in höheren Sphären nachschauen und damit meine ich sicherlich nicht den alten Herrn.“
„Ganz einleuchtend, Gustav. Immer unzumutbarer diese Barbarei. Und wie die Gesellschaft sich daran aufreibt und spaltet. Nun, er leugnete es etwa?“
„Zunächst tat er recht konstruktiv und schlug mir eine besser vergütete Stelle vor. Er sagte ‚Nun, Herr Golev, sie sind ja studierter Historiker und Philosoph. Man könnte also sagen, sie verstehen sich aufs Leben. Sie kennen die Formen und Konturen, in denen sich die Menschen befinden. Wir haben hier eine interessante Stellenausschreibung einer Werbeagentur und ich möchte, dass wir Sie dort einsetzen‘, schloss er ab. Ich entgegnete Ihm, dass er mich nicht falsch verstehen solle, doch war ich stets bemüht aus lauter Formen den Stoff nicht zu vergessen. Und der Stoff einer Werbeagentur erscheine mir doch eher der Theologie untergeordnet und käme einer eigenen Religion gleich. Kurz, um als moderner Pfaffe Waren zu predigen, sähe ich mich nicht geeignet.“
„Ein guter Treffer, Gustav! Und ließ er es denn dabei beruhen? Sicher brauchtest du deinen Wisch für den Arbeitslosenverwalter.“
„Er wurde laut und nannte mich einen altbackenen, frustrierten Sozialisten, der endlich von seiner Ideologie abtun sollte. Denn, so weiter, ich sei nun einmal schlichtweg faul. Ich entgegnete ihm mit der Offenbarung seiner Ideologie, die hinter seinen Worten steckte; dieses Gift von höheren Sphären. Doch er wollte nicht hören und drohte mir, seine Unterschrift gänzlich zu verweigern, was mir wohl eine Kürzung der Mittel einbringen würde… Also nun, Kurt, um es kurz zu machen, schlug ich ihn.“
„Ha, also pariert! Was hast du ihm gesagt?“
„Nein, nein, Kurt, du verstehst mich nicht. Ich schlug ihn. Ich meine so, geradeaus, auf die Nase.“
Ein Moment der Stille trat ein. Beide Freunde schauten einander an.
„Es schoss mir damals durch den Kopf: Irgendwie musste ich meinen Treffer doch landen! Was ich sagte war die Wahrheit, nur verstand mich dieser Dummkopf nicht. Nun ja… und im Moment des Schlages, bemerkte ich dann doch meine fehlende Durchschlagskraft.“
Erneute Stille. Kurt Kobald schien in voller Konzentration einen Punkt auf Gustav Golevs roten Pullover zu fixieren.
„Es ist Zeit, du entschuldigst mich, Kurt. Es war wie immer eine Freude.“
Wie immer ging Gustav Golev ohne viel Zeremonie hinaus. Kurt Kobald vernahm noch den anspringenden Motor des alten Mercedes seines Freundes. Er saß noch eine Weile regungslos da, wartete noch bis der Motor nicht mehr zu hören war, als es plötzlich aus ihm herausplatzte. Er ließ ein Gelächter los, welches laut durch sein ganzes Haus schallte und selbst auf der Straße zu hören war. Sein Sohn hörte es ebenfalls im Nachbarzimmer, kam verwirrt zu ihm, da er ein solches Lachen gar nicht gewohnt war von seinem Alten, und erkundigte sich nach seinem Befinden. Dieser aber sagte: „Sei so gut, Sohn, und bring mir eine Staffelei. Und meinen Bleistift. Haha, es ist wirklich zu köstlich, nein ausgezeichnet, genial! Schnell, schnell, in mir lodert es. Ein Vulkan will ausbrechen. Hahaha… das ist ja… Hihihi.“
Kurt Kobald malte ein Werk, für das man ihn unter Experten endgültig zum auserlesenen Kreis großer, zeitgenössischer Künstler huldigte. Sein Freund Gustav Golev murmelte bei der Premiere des Gemäldes zu ihm: „Ich verstehe dich, alter Gauner. Nun, du bist nun einmal Künstler und Recht hast du damit. Natürlich, jaja. Doch was gilt für mich? Was tun, mein Freund?“ Was tun?
Von Andreas Bill, 25. April ’17
Illustration von Lukas Schepers