Freudenreich und Bangemann

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Die sonntäglichen Besuche bei Oma und Opa waren für Emil schon seit seinen frühesten Erinnerungen wunderbar. Als Kleinkind genoss er die besondere Heimeligkeit, leckeren Spätzle und Maultauschen, die nirgends so lecker schmeckten wie dort am fein gemaserten Tisch mit der weißen Spitzendecke – „Komm, Herr Jesus, sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast. Amen!“ Natürlich schmeichelten ihm auch die Hätscheleien und das kleine Stück Schokolade, das er stets zum Nachtisch bekam, während er sich auf dem weichen Sofa ausbreitete. Bevor er dann entschlummerte, wurde diese Atmosphäre immer von kleinen Anekdoten aus den Jugendjahren seines Großvaters Wilhelm vollendet, die Emil meistens zum Lachen brachten, weil es für ihn unvorstellbar komisch war, wie anders früher doch alles lief. Natürlich gab es auch abschreckende Erzählungen, wie die von den Rohrstockschlägen, die der junge Wilhelm damals dank seiner Dummejungenstreiche kassierte.

Jedenfalls war Emils Großvater unabhängig vom Thema ein großer Erzähler. Er hatte nach dem Krieg bis zu seiner Pension als Redakteur in diversen namenhaften Tageszeitungen gearbeitet und im Privaten Prosa und Lyrik verfasst, die er jedoch kaum jemandem zeigte. Mit den Zeitungen, für die er gerade schrieb, ging er jedoch hausieren. Das war ihm besonders wichtig. Seine literarische Vorliebe galt besonders russischen Autoren wie Puschkin oder Gorki, aber auch Nabokov hatte es ihm angetan. Diese Autoren waren ihm heilig und er ließ ihre Werke ganz oben in seinem Bücherregal neben einer Reihe dicker Wälzer, die Emil später erben und zu schätzen lernen sollte, über einem Gutteil der Weltliteratur thronen.

Doch seit vier Sonntagen schon hatte sich Wilhelms Zustand zunehmend verschlechtert. Er hustete viel und Blut benetzte dabei seine Lippen. Auch die Geschichten wurden bedrückender. Er fing zum ersten Mal an, direkt vom Krieg zu erzählen. Zuerst – und das tat er sehr deutlich – klärte er Emil über die Möglichkeiten von Zivil- und Wehrdienst auf.

Als sein Körper immer schwächer wurde und er die ersten Anzeichen geistiger Ermattung empfand, fing er an einem verregneten Sonntag im Dezember an, eine Geschichte zu erzählen, die ihn sein Leben lang begleitet hatte. Wann immer sich in seinem Privat- oder Berufsleben jemand über das für ihn offensichtlich Gerechte stellte, blockierten seine Gedanken jeglichen Gehorsam oder entfachten sofortigen Widerstand. Zum Beispiel, als ein Chefredakteur, den er bald darauf nie wiedersehen würde, meinte, ihn politisch „auf Linie bringen zu müssen“, als es um die fatalen Fehler im Vietnamkrieg ging. Aber auch bei alltäglichen Ungerechtigkeiten konnte er nicht mehr wegschauen. Wenn er einen Taschendieb oder Betrüger sah, musste er ihm hinterherrennen, solange er noch konnte. Wenn er eine Gruppe von Jugendlichen einzelne Personen anpöbeln sah, musste er dazwischen gehen, insofern sein Körper ihm die Möglichkeit bot. All dies war letztendlich auf eine Reihe von Erlebnissen zurückzuführen, die an dem Tag ihren Höhepunkt fanden, dessen Lehre er nun Emil auf seinen Lebensweg mitgeben wollte. Und obwohl sein beinahe zehnjähriger Enkel kaum wirklich etwas von dem begriff, was er ihm erzählte, diente auch ihm Jahre später die Geschichte seines Großvaters Wilhelm als Kompass. Und so begann dieser zu erzählen, während er sich mit seinen knochigen Fingern die Schläfe massierte:

„Wir marschierten nach der verlorenen Schlacht vor Moskau wieder zurück gen Westen. Du musst wissen, meine Laune war auf dem Tiefpunkt seit Kriegsbeginn. Bei dieser Saukälte durch Russland – und manche denken, der Winter hier ist ach so furchtbar! Dieser Wahnsinn jedenfalls, der in den Herzen der Soldaten aufstieg und auch mich ansteckte, nachdem wir erst Minsk und später Kiew erfolgreich eingekesselt hatten, stand mir jetzt ganz fremd gegenüber. Mit jedem Schritt, der in dem frischen Schnee einsackte, sank meine Laune also zusammen mit meiner körperlichen Verfassung in ungeahnte Tiefen. Zehen und Lippen waren tatsächlich so blau, wie man sich den Heimathimmel erträumte. Solche Fantasien hatte ich damals. Geruchs- und Tastsinn waren wie ausgelöscht. Der Bodenfrost, der die vom Herbstregen Rasputiza überschwemmten Straßen nach Moskau vor einigen Monaten wieder passierbar gemacht hatte, hatte uns nun im wahrsten Sinne des Wortes kalt erwischt. Dabei war er doch erst die große Hoffnung, weil wir endlich weiterkonnten, aber ich spürte schon, dass es nicht gut ausgehen würde. Und ich war da nicht der Einzige.“ – „Wieso bist du dann nicht einfach gegangen?“, fiel sein Enkel, der die Kälte förmlich spüren konnte, ihm hastig ins Wort. „Sehr gute Frage, Emil. Ich bin mir nicht sicher. Aus Furcht wahrscheinlich… Oder, weil es mehr brauchte, um diese Vorahnung zu verhärten. Noch konnte ja alles irgendwie gut ausgehen, dachte ich mir. Jedenfalls gab es in meiner Kompanie zwei Soldaten aus Kempten im Süden Deutschlands, die sich wohl schon von klein auf kannten. Ich verbrachte viel Zeit mit den beiden. Anfangs waren wir in unserer Naivität und Unbedachtheit guter Dinge und verstanden uns blendend, aber während sich der Jäger Freudenreich zu Beginn des Moskau-Feldzuges beim Hitlergruß stolz auf sein Barettabzeichen schlug und vom Blitzkrieg träumte, meldeten sich in den Gedanken des Jägers Bangemann erste Zweifel am Erfolg der Operation. Er sagte immer, dass ein Blizzard jeden Blitz überdecken konnte.“

Als er dieses Zitat seines alten Freundes rezitierte, bebten ihm die Lippen. Er hob zitternd sein Wasserglas an, befeuchtete die ausgetrocknete Kehle und schnappte mit dünnem Atem nach ein wenig Luft. Emil saß gespannt dort und zog seine umfassten Knie dicht an den Körper. Nachdem Wilhelm sich beruhigt hatte, fuhr er fort:

„Die Zweifel des Jägers Bangemann wuchsen mit jedem Schritt in Richtung Moskau. Das hatte er mir damals anvertraut. Und Schritt für Schritt sank dann die Truppenmoral auf dem Rückzug. Jäger Freudenreich hingegen… Der kämpfte wie ein verbissener Hund, der niemals lockerlassen würde. All seine Kraft investierter er darin, noch fanatischer zu werden. Nach den Siegen in der Ukraine wurden neue Divisionen zur Unterstützung an die Front geschickt, doch mehr Soldaten helfen nicht gegen die schneidende Kälte. Besonders die Heeresgruppe Mitte, in der ich mit den beiden doch so verschiedenen Jugendfreunden diente, war denkbar schlecht ausgerüstet. Wir waren schon bald der sowjetischen Übermacht ausgeliefert. Den Glücklichen unter den Soldaten froren nur einzelne Gliedmaßen ab, obwohl zumindest ich mich an diesem Zeitpunkt des Krieges fragte, ob die Überlebenden vielleicht doch die Unglücklichsten waren. Die Situation an der Front wurde immer drastischer. Mehr und mehr Menschen gaben auf und überließen ihren Körper der Erde und dachten sogar noch, dass dort im Eis für das Vaterland zu sterben besonders ruhmvoll sei. Innerhalb weniger Tage eroberte die Rote Armee die ersten Städte zurück.

Auf dem Rückzug zu den wirklich erbärmlichen Winterstellungen zersplitterte sich die ehemals eisenharte Armee in demoralisierte und bis ins Mark erschütterte Rückzugtrupps. Unsere Infanterie-Division flüchtete am Ufer der Oka entlang durch die Wälder Korekozevos. Mittlerweile waren die meisten Pferde schon verendet und als Einlage in der dünnen Brotsuppe gelandet. Deswegen waren auch ein paar Kavalleristen mit uns unterwegs. Unter ihnen waren viele Verletzte, die sich beim Sturz von ihrem Ross die Beine oder Füße gebrochen hatten. Sie starben elendig, so wie es fast jedem Verletzten unter diesen Umständen erging. Die beiden Schulfreunde unterhielten sich kaum noch. Der Krieg hatte einen Keil zwischen die Kumpels aus dem Allgäu geschlagen. Bangemann erzählte mir an manchen Abenden, was er sich so für Gedanken machte und öffnete mir langsam immer mehr die Augen. Er sagte mir, das sei kein Krieg gegen Russland, sondern gegen die Menschlichkeit an sich. Der Idee des Dritten Reiches lag nie etwas Anderes als Menschenverachtung zugrunde, das erkannten wir damals deutlicher als je zuvor. Aber Jäger Freudenreich hielt vehement jegliche Bedenken an Hitlers Endlösung für vollkommenen Unsinn. Und wenn sie dann also doch mal redeten, gerieten sie sofort aneinander. Nach einigen unbedeutenden Diskussionen, die schon fast in bösen Schlägereien endeten, war uns klar: Jäger Freudenreich würde für den Führer sterben, während sein Freund und ich immer klarer die Unsinnigkeit der gesamten Bewegung erkannten.“

Wieder musste Wilhelm trinken, nachdem sein keuchender Husten ausbrach und er sich das Taschentuch vor den Mund halten musste. Diesmal brauchte er länger, um sich zu beruhigen. Emil saß nachdenklich auf dem Sofa und betrachtete seinen Großvater, der mit geschlossenen Augen auf seinem Sessel saß und in Emils Fantasie fast mit ihm verschmolzen war, so oft hatte er ihn schon so dort sitzen sehen. Dann fragte er unvermittelt mit zusammengezogenen Augenbrauen: „Wie bist du überhaupt dorthin gekommen, Opa?“ – „Das ist eine komplizierte Angelegenheit, die du da ansprichst, mein Lieber. Aber ich bin froh, dass du es tust. Ich habe darüber selbst viel nachgedacht und bin immer noch zu keinem wirklichen Schluss gekommen. Viele sagen immer, es lag nur an den Zeitumständen, und die gehören ja jetzt der Vergangenheit an. Aber das glaube ich nicht. Ich glaube, es lag einfach nur daran, dass ich niemanden hatte, der mir den richtigen Weg gezeigt hat. Wieso das wiederum so war, kann ich dir nicht beantworten. Ich war wie ein Blinder, der hilflos in der Dunkelheit herumstocherte, bis mir dann Bangemann die Augen geöffnet hat.“ Wilhelm hielt noch einmal kurz inne, atmete schwer und fuhr fort:

„Also trotteten wir Soldaten wortlos bei -20 Grad mit gesenktem Kopf und tauben Ohren durch das Unterholz. Plötzlich wurde einer der bereits hinkenden Kavalleristen durch eine Tretmiene am Rande einer Lichtung in Fetzen gerissen und Freudenreich von der Explosion mit dem Kopf gegen den nächsten Baumstamm geschleudert. Nachdem der schrille Ton aus unseren Köpfen verschwunden war und wir uns wieder trauten aufzublicken, sah Bangemann seinen Kameraden mit blutüberlaufener Schläfe an der eingeschneiten Tanne liegen. Er lebte. In vollkommener Verwirrung griff der arme Teufel schreckhaft an den Kragen des heraneilenden Freundes und bat darum, ihn nicht sterben zu lassen. „Mach dir keine Sorgen, wir bringen dich hier raus“, wurde Freudenreich von seinem Freund beruhigt. Als er ihn gegen den Baumstamm gelehnt, die gröbsten Splitter aus den Beinen gezogen und den Kopf verbunden hatte, wandte sich Bangemann nach der übrigen, mittlerweile wieder sortierten Division um – oder eher, was davon übriggeblieben war. Feldwebel Pagenstecher, führender Unteroffizier des Trupps und ein unausstehlicher Mann, stand stählern neben dem Krater im Schnee und schüttelte den Kopf. „Eine Schande“, murmelte er und fuhr fort: „Dreckiges Kommunistenpack, dreckiger Bolschewismus, dreckige Slawen sind fast so schlimm wie die Juden.“ Bangemann ging also zu ihm hin und erklärte, dass Jäger Freudenreich dort hinten am Baum gelehnt aus Kopf und Bein stark blutete. Der Befehlshaber erwiderte: „Das sieht sehr schlecht aus mein lieber Bangemann. Sehr schlecht. Alle, die vorher verletzt waren, sind wie die Fliegen tot umgefallen. Jäger Freudenreich ist der Einzige, der uns nun an einer zügigen Weiterreise zur Winterstellung hindert. Was bleibt uns da übrig? Sie können ihn nicht tragen und ich bezweifle, dass Ihnen jemand helfen wird.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, schritt er auf den Blutenden zu und fragte ihn mitten in sein rotes Gesicht: „Wenn Sie dem Führer einen großen letzten Dienst erweisen wollen, erschießen Sie sich.“ Er weigerte sich natürlich. Die Angst vorm Sterben war nun klar und deutlich in ihm aufgestiegen, wobei nicht auszumachen war, ob dies in dem Moment des Aufpralls geschehen war, oder als die Worte seines Vorgesetzten gedämpft in seinem angeschlagenen Kopf nachhallten. „Na gut. Sie müssen wissen, dass ich Sie schon lange nur für einen Schwätzer gehalten habe, der nicht voll und ganz für unsere Sache steht. Das macht Sie kaum besser als einen Juden.“ Mit diesen Worten befahl er im Umdrehen dem Jäger Bangemann, seinen Freund zu erschießen. Er weigerte sich ebenso. „Was Sie verlangen, Herr Feldwebel, ist unmenschlich.“ Und auch ich meldete mich zu Wort und sagte, dass ich beim Tragen des Verletzten helfen würde. Da lachte der Feldwebel laut auf und entgegnete: „Im Unternehmen Barbarossa gibt es keine Menschlichkeit mehr. Hier zählt das Recht des Stärkeren und dieser Mann hat sich gerade zum Untermenschen degradiert. Er hält die Aktion freiwillig auf und zeigt kein Verständnis für das große Endziel.“ Fest entschlossen entgegnete ihm Bangemann „Wir sind vielleicht in Hitlers Augen von allen Völkerrechtsnormen befreit, aber dies sollte uns nicht von unserem menschlichen Bewusstsein und dem Verstand befreien. Doch das genau tut dieses Unterfangen. Bei manchen schleichend, bei anderen abrupt. Was hat der Krieg aus Ihnen gemacht?“ Während der Feldwebel nun mit seiner Pistole auf den Verletzten Freund zielte, antwortete er: „Einen Übermenschen, der jedes Hindernis aus dem Weg räumt“, und drückte ab. Doch der Knall blieb aus. Zu viel Schnee hatte den Abzug vereist, sodass sich der Unteroffizier in einem Anfall von Wut mit seinem Feldmesser auf Freudenreich stürzte. Der lag die ganze Zeit nur reglos dort, mit heruntergeklappter Kinnlade und fahlem Gesicht. Gerade als die lange Klinge im Hals seines Jugendfreundes steckte, schaffte es Jäger Bangemann seine ebenfalls vereiste Sicherung zu lösen und drückte ab. Der Knall folgte, Blut spritzte, der Pagenstecher fiel tot neben den ausblutenden Leichnam seines Opfers. Niemand rührte sich. Die Kompanie stand still, bis der letzte überlebende Kavallerist in die Runde fragte: „Was nun?“ – „Weitergehen, wer braucht schon so einen Führer“, entgegnete Jäger Bangemann und fing an, ein Loch in den Schnee zu schaufeln.“

Emil zappelte mit den Beinen und schlug aufgeregt gegen die Unterseite des Sofas. Ihm lief ein Schauer über den Rücken. Hastig fragte er, die Gelegenheit ergreifend, seinen Großvater: „Und Opa, wurde Jäger Bangemann als Held gefeiert, als ihr wieder nach Hause gekommen seid?“ – „Bangemann wurde am selben Tag als Deserteur gehängt, an dem wir beide und die anderen fünf letzten Überlebenden unseres kleinen Trupps an der Winterstellung ankamen.“ – „Und was hast du gemacht?“ – „Ich wurde verschont. Ein paar Monate später sind wir gegen Stalingrad marschiert. Dort kämpfte ich ein letztes Mal ohne die Chance auf Fahnenflucht. Als die Russen mich endlich gefangen nahmen, hatte ich genug Zeit, über all das nachzudenken – und fing an zu schreiben“, sagte der alte Greis mit einer Träne im Augenwinkel und nahm seinen Finger von der Schläfe.

Von Lukas Schepers, 12.März’17 / Illustration von Alexander Straatmann

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