Literaturkritik: “Väter und Söhne” oder Die Geburt des russischen Nihilismus

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Das vorliegende Buch von weltliterarischem Rang spielt im Jahre 1859, zwei Jahre vor der Bauernbefreiung in Russland. Die Bauernbefreiung verordnete Alexander II. Nebenbei, aber doch elementar: Alexander II. ist 1881 durch ein Attentat der Untergrundorganisation Narodnaja Wolja („Volkswille“) gestorben. Trotz dessen, dass die Befreiung des russischen Volkes von der Leibeigenschaft sowohl die Adels- wie Junkerklassen, deren Unterdrückungsapparat die Leibeigenschaft war, als auch die riesige Bauernklasse in den Ruin stürzte, ist 1861 der historische Augenblick, mit dem das kapitalistische Zeitalter die russische Gesellschaftsordnung grundsätzlich umzuwälzen beginnt. Das Privateigentum kommt zu seinem historischen Recht. Es beginnt sich folgenschwer in den archaisch-feudalen Boden Russlands festzusetzen, das erste Zucken des kapitalistischen Prozesses in Russland. Es ist – welthistorisch betrachtet – kein Zufall, dass im gleichen Jahr auf dem riesigen Kontinent hinter dem Atlantik ein blutiger Bürgerkrieg ausbrach, in dem die Entscheidung fallen sollte: ob mit den Südstaatlern die (gesellschaftliche) Arbeit durch das Sklavensystem usurpiert oder ob mit den Nordstaatlern die (gesellschaftliche) Arbeit kapitalistisch durch das Lohnsystem monopolisiert werden sollte: ob die Konföderierten unter Jefferson Davis verlieren oder die Föderierten unter Abraham Lincoln siegen sollten.

Mit dem kapitalistischen Umwälzungsprozess stürzt seinerzeit die russische Intelligenz und das Volk in eine nachhaltig politische, intellektuelle, kulturelle und gesellschaftliche Krise, welche nicht zuletzt ihren gewaltigen Niederschlag in der russischen Literatur mit wirkungsmächtiger Sendung findet – namentlich bei den Dostojewskis, Tschernyschewskis, Herzens, Tolstois, Gontscharows, Nekrassows und schließlich Turgenjews des epochemachenden 19. Jahrhunderts. Dazu muss der Leser wissen, dass unter den europäischen Völkern besonders das russische, neben ihren Leiden aus der materiellen Rückständigkeit, einer schier barbarischen Repressionsmaschinerie des Zarismus ausgesetzt war, die mit der Aufhebung der Leibeigenschaft nicht nur eine wesentliche Stütze verlor, sondern die eine radikale Mobilmachung und Entladung der Volksenergie, die Jahrhunderte durch Zarengewalt und Peitsche angestaut wurde, zur Folge hatte. Kein Tabu war mehr berechtigt, keine Moral unerschütterlich legitimiert, kein Prinzip war mehr von felsenfester Ewigkeit, kein Gott und Zar hatte noch den absoluten Herrschaftsanspruch. Auf den Straßen und in den Salons herrschten die Raskolnikows – man kennt diese Fragilität und das Zerbrechen des Alten vor allem aus Dostojewskis Werken. Alles wankte, alles brodelte, kurz: das russische Volk suchte nach einer Identität, und die Schriftsteller wie Intellektuellen waren die – reaktionären oder revolutionären – Ideenproduzenten zur Stillung dieses unermesslich energischen, von oben per Dekret emanzipierten Volksbedürfnisses nach Identität. In diesem Rahmen ist auch der vorliegende Roman zu betrachten, der 1861 geschrieben wurde. Der Roman ist geschichtlich sozusagen das prologische Unbehagen und Hoffen vor einer Zukunft der Wissenschaft, der Volksherrschaft, des radikalen Demokratismus, der Autonomie, des Atheismus, kurz: der emanzipatorischen Sprengkraft des Materialismus.

Der Titel des Romans – „Väter und Söhne“ – verweist bereits auf den Generationskonflikt zwischen der zaristischen Aristokratie, der jene Vergangenheit gehörte, in der die arbeitenden Volksklassen eine passive Knetmasse der Herrschenden waren, und der demokratischen Progression, der jene Zukunft gehören sollte, in der die arbeitenden Volksklassen eine organische Körperschaft von aktiven Subjekten sein sollten, die jede Herrschaft des Menschen über den Menschen ablehnen würde. Wie dem auch sei, der Roman handelt von zwei Freunden – Jewegenij Barasow und Arkadij Kirsanow –, die aus der Zivilisation kommen und ihre Väter auf dem Land besuchen. Mit ihrem Besuch beginnt ein allseitiger Reibungsprozess zwischen den beiden Generationen, in der die Jungen den politischen wie sozialen Fortschritt verkörpern und die Alten die tradierten Werte des Ancien Régime repräsentieren. Beide Parteien stehen sich mehr oder weniger in einem unversöhnlichen Antagonismus gegenüber. Besonders Basarow, Medizinstudent und experimenteller Wissenschaftler, der im Tau des Sonnenaufgangs jeden Morgen Frösche oder Insekten fangen und Pflanzen zu beschauen geht, ist selbsterklärter Nihilist: er lehnt jede Autorität ab. Damit ist der Konflikt mit den Vätern, mit der Vergangenheit, determiniert – denn sie bejahen jede Autorität. Mit der Liebe beginnt Basarow ein irrationales Phänomen im menschlichen Wesen zu spüren, das ihn zwar in eine individuelle Krise stürzt, allerdings sein nihilistisches Weltbild nicht in Frage stellt. Basarow ist der Prototyp des neuen russischen Menschen, der negierend, fragend, denkend, arbeitend, nach vorne gehend, nüchtern Erkenntnisse sucht und sammelt, ohne sich von den schwärmerischen Sentimentalitäten der Gefühlserotiker mitreißen zu lassen. Er betrachtet die Dinge so, wie sie sind: hellsichtig, klar, nüchtern, induktiv, ohne jede Verklärung, ausschließlich unter Nützlichkeitserwägungen. Daher lehnt er Puschkin – der Typus des schöngeistigen Dichters – als Mystiker ab, der seiner Generation nichts Nützliches geben könne. Diese Haltung verdichtet sich in der Maxime: „Ein ordentlicher Chemiker ist zwanzigmal wertvoller als jeder Poet.“ Er mag Recht haben, oder nicht. Hier ist nicht der Ort, darüber zu diskutieren. Feststeht allerdings, dass die Produktivkraft der Poesie die Produktivkraft der Chemie voraussetzt, ohne die sie nicht sein könnte – genauso wie die Produktivkraft der Chemie die Produktivkraft der Physik voraussetzt und die Produktivkraft der Physik schließlich – um final zu sprechen – die Produktivkraft der Land- und Industriearbeit voraussetzt, die jeweils die notwendigen Produkte und Stoffe liefern, damit – den Kreis schließend – die Poesie überhaupt eine Existenzmöglichkeit hat. Oder zeigen sie mir einen Schriftsteller, der ohne Papier, ohne Tinte, ohne Nanotechnik, ohne Wasser und Nahrung usw. usf., ein Gedicht, eine Zeile verfassen kann, ohne trotzig aus Geistesverwirrung seufzen zu müssen: credo, quia absurdum est!

Nichtsdestotrotz – neben den anderen Figuren, die ihre interessanten Eigenheiten haben – kulminiert der ganze Roman in dem nihilistischen Prototyp des Basarow. Zieht man ihn aus dem Roman ab, wie eine Schablone, verliert der Roman sein ganzes Wesen und seine Bedeutung. Hier kann man fragen: urteilt der Erzähler nicht über das Basarowische Ungestüm, vor dem ein Konservativer Unbehagen, ja Furcht verspüren muss? Nein, der Erzähler unterlässt eine endgültige Beurteilung über Basarows Charakter. Das macht ihn zum Realisten. Mit wohlwollender Neutralität, doch seidenfein eingesponnenem Argwohn, weist er auf die Fatalität des Nihilismus hin, indem Basarow – so als hätte der Erzähler einen Nietzsche vorausgesehen – sich, bewegt durch seine Liebeserfahrung, vor seinem Freund Kirsanow offenbart: „Hier liege ich nun im Heuschober … Es ist ein schmales Plätzchen, das ich einnehme, unendlich winzig im Vergleich zu dem übrigen Raum, in dem ich nicht bin und wo ich nichts zu suchen habe; und das Teilchen Zeit, das ich leben werde, ist so nichtssagend vor der Ewigkeit, in der es mich nicht gegeben hat und nicht geben wird … Und in diesem Atom, in diesem mathematischen Punkt, kreist das Blut, arbeitet das Gehirn, verlangt nach etwas … Was für ein Unfug! Was für Dummheiten!“ (Das könnte den Erzähler u.U. zum Romantiker machen.)

Möglicherweise ist dies der dezente, absolut für Basarow charakteristische Hinweis eines Erzählers, der stilistisch in diesem Roman eine beeindruckende Synthese aus rührigem Romantizismus und sachlichem Realismus hervorzubringen vermag, dass trotz allen wissenschaftlichen Fortschritts, die Wissenschaft den Menschen nicht erfüllen wird, solange der Mensch nicht mit dem Menschen assoziiert ist. Denn was sonst soll in diesem Zusammenhang das Wesentliche des „Etwas“ sein, wovon Basarow spricht und auf das der ganze menschliche Organismus hinarbeitet, wenn nicht das „Etwas“ das Menschliche sucht und einschließen will? Der Szientismus verspricht und vermag nicht die Versöhnung der Menschheit mit sich selbst. Das 21. Jahrhundert – überwuchert mit technologischem Fortschritt, welches täglich wächst – ist der Beweis für diesen Satz. Die Wissenschaft ist lediglich eine historische Bedingung für die Versöhnung des Menschen mit dem Menschen. Sie ist nicht selbsttätig. Erst wenn die Menschen ihre Verhältnisse so eingerichtet haben, dass sie rationale sind, erst dann wird der wissenschaftliche Fortschritt – dialektisch – sozialer Fortschritt sein, und umgekehrt; Jeder wissenschaftliche Zuwachs wird sozialer Fortschritt und jeder soziale Zuwachs ein wissenschaftlicher Fortschritt sein. Ist dieser Umschichtungsprozess noch nicht vollbracht, so verläuft der wissenschaftliche Fortschritt singulär, wie man heute sieht, und dient letztlich zur Unterdrückung des sozialen Fortschritts. Er bleibt eine Bedrohung, eine zerstörerische Totalität – exemplarisch: die (atomare) Waffenindustrie, die die Speerspitze aller Wissenschaft im Kapitalismus ist. Sie ist das praktische Resultat und Bedürfnis der Überschneidung neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse zur Überwindung von Raum wie Zeit, und dieses Resultat ist eine destruktive Totalität, da im kapitalistischen Kampf aller gegen alle die Wissenschaften unter dem monopolisierenden Diktat des Kapitals in technische Imperialismen verwandelt werden. Jede neue, wissenschaftliche Erkenntnis avanciert im kapitalistischen Zertrümmerungsprozess zu einem Vernichtungsinstrument gegen Völker und gegen das eigene Volk. Daher hat der heutige, unterdrückte Mensch in den modernen Gesellschaften Angst, statt Zuversicht vor der Zukunft. In unter anderem diesem Sinn gibt der Roman dem heutigen Leser tiefe Einsichten mit auf den Weg. In diesem Sinn kann uns Basarow typologisch lehren und erziehen.

turgenjew-hannaUm am Ende den Anfang dieser Rezension aufzugreifen: der Nebentitel lautet ‚Geburt des russischen Nihilismus.‘ Das heißt nicht, dass Turgenjew mit diesem Buch eine ideologische Grundhaltung aus einer literarischen Trickkiste gezogen hat. Das vermag kein Künstler, ohne gleichzeitig Esoteriker zu sein. Dahingehend kann der Nebentitel Verwirrung stiften. Der Nebentitel will sagen, dass er mit diesem Roman den russischen Nihilismus, der selbstverständlich in Kreisen der russischen Intelligenz seinerzeit (man denke an Gogol, an den Kreis um Belinski und an den jungen Dostojewski vor 1850) aufgrund der desaströsen Lage des Volkes rumorte, gesellschaftlich popularisierte. Dieses Buch schuf die Popularisierung des russischen Nihilismus, er gebar sie nicht. Turgenjew hat diese intellektuelle Strömung, die aus dem Westen ins russische Reich vordrang, mehr oder weniger mit dem vorliegenden Roman zu einem literarischen Begriff im dialektischen Gegensatz zum liberalen oder reaktionären Panslawismus, deren Vertreter u.a. Dostojewski im späten Alter wurde, zusammengefasst, der sodann – der literarisch zusammengefasste Begriff – kulturell konsumiert wurde. Jeder Andersdenkende – ob im liberalen, anarchistischen, kommunistischen oder republikanischen Sinn – wurde seitdem „Nihilist“ bezeichnet, ähnlich wie in der Antikommunistischen Ära nach dem zweiten Weltkrieg jeder Andersdenkende in der westlichen Hemisphäre „Kommunist“ denunziert wurde. Turgenjew hatte damit – nolens volens – einen Kult geschaffen. Er war ein Ideenproduzent des Zeitbedürfnisses seiner Zeit. Er fügte aus Bestehendem eine kulturelle Identität zusammen. Das macht „Väter und Söhne“ bedeutungsvoll. Das machte „Väter und Söhne“ zum Präludium einer neuen Zukunft.

Von Mesut Bayraktar, 23.Okt’16 / Titelbild von Hanna Kuster

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