Literaturkritik: “Der Mann ohne Eigenschaften” oder Großbürgerliche Infamie

Es heißt, der vorliegende – offen gesagt langatmige – Roman von Robert Musil sei das Opus Magnum, sein Haupt- und Lebenswerk seiner schriftstellerischen Produktion. Es ist ein sehr umfangreiches, ausuferndes Werk, das letztlich doch nicht zum Abschluss gekommen ist und deshalb zum Ende hin immer fragmentarischer und widersprüchlicher wird.

Wie dem auch sei, die bibliographischen Daten außer Acht gelassen, rezensieren wir dieses Buch nicht aus inhaltlich überzeugenden Erwägungen, sondern weil es viel Zeit in Anspruch nahm, es zu lesen, ohne dass es viel her zu geben vermochte. (Man darf anderer Meinung sein.) Es scheint, Umfang und Inhalt stehen in einem proportionalen Verhältnis zueinander, nämlich in einem solchen, worin der zunehmende Umfang zunehmend den Inhalt verkürzt. Doch schauen wir darauf, was das Wenige im Roman zu geben vermag.

Es ist offenbar, nicht zuletzt da Musil bis zum Ende seiner Tage am Manuskript arbeitete, dass der Autor viel Energie und Wissen in diesen Roman gesteckt hat – Musil hat 10 Jahre an dem Roman gearbeitet. Und allemal, schriftstellerisch ist der Roman auch tadellos. Stilistisch weist er einen mikroskopischen Realismus auf, der in seiner Beschreibung zahlreiche Details, Nuancen, Meinungen, Standpunkte, Blickwinkel und Belanglosigkeiten einschließt. Das Buch möchte von Tolstoi geschrieben sein, ist es aber offensichtlich nicht. Der Stil ist dennoch insofern interessant, dass er eine imaginäre Landschaft erzeugt, auf dem der Leser nach allen Richtungen und Winkeln hin sein Auge werfen kann. Im Gegensatz zum Realismus eines Dostojewskis ist der Stil, der durchaus streckenweise einen ironisch-spottenden, interessanten Unterton hat, jedoch frei von listigen Geheimnissen oder Kuriositäten, einer Art von Stricken und Falltüren, die den Leser zum Nachdenken herausfordern oder in Verlegenheit bringen könnte. Der Stil ist eher offenherzig, wirkt aber darum umso schlaffer. Außerdem sind zahlreiche essayistische Exkurse dem Gang des Romans implementiert, die die ohnehin dünnblütige  Spannung des Romans, sofern es eine gibt, erweicht und zersetzt. Ein Kanon im dramatischen oder epischen Sinne gibt es nicht. Es ist ein bürgerlicher Roman zweitklassiger Art, der Lebenszeit im Seufzen des Gemüts fressen soll, ohne den Umgestaltungswillen über das Leben zu nähren.

Doch kommen wir kurz zum Inhalt.

Ulrich, ein erfolgloser, oder anders gewendet, arbeitsloser Mathematiker und Philosoph ist der Mann ohne Eigenschaften, der einen „Möglichkeitssinn“ sucht. Er lebt im dekadenten Wiener Belle Époque von 1913, ist zwar erfolglos, aber doch reichlich begütert, um sich ein sorgloses und bequemes Leben in einer Villa leisten zu können. Ulrich ist – um es offen zu sagen – ein privilegierter, utopistischer juste-milieu Intellektueller des Wiens von 1913, der sich zu einem „Urlaub vom Leben“ entscheidet. Da der Karriereerfolg als Wissenschaftler ausblieb, entscheidet er sich zu Beginn des Romans zum Leben eines privilegierten, keinesfalls liederlichen, sondern eher seichten und scheinbar tadellos bürgerlichen Bohemiens der herrschenden Klassen.

Auf das Verlangen seines Vaters hin, der ein renommierter und konservativer Rechtsprofessor in Pension ist und dem Staat, Sitte und Kultur besonders am Herzen liegen, versucht Ulrich durch die verwandtschaftliche Beziehungen zu seiner Cousine, Diotima, zu den großbürgerlichen und adligen Kreisen Zugang zu finden. Da Diotima damit überantwortet wurde, die sog. „Parallelaktion“ für das Jahr 1918 vorzubereiten, treffen sich regelmäßig in ihren Salons alle Charaktermasken der großbürgerlichen Gesellschaft des Wiener Belle Époque. Dort soll – laut des ciceronisch sich darbenden Rechtsprofessors – Ulrich hin und dort kommt er als komischer Außenseiter auch rein.

Warum „Parallelaktion“? Da der österreichische Kaiser Franz Joseph im Jahr 1918 sein 70jähriges Thronjubiläum und der deutsche Kaiser Wilhelm II., ein Verbündeter, sein 30jähriges Jubiläum gehabt hätte (und beide nutzlosen, konstitutionellen Monarchen wurden durch die rote Revolution der arbeitenden Klassen in Berlin wie in Wien 1918/1919 weltgeschichtlich vom Thron zerschmettert!); daher Parallelaktion.

Die Vorbereitung dieser Aktion soll aus dem Standpunkt Österreichs durch Diotimas Leitung präjudiziert werden; entsprechend die Zusammenkunft repräsentativer Figuren aus Diplomatie, Adel, Bourgeoise, Großgrundbesitz, Industrie, Militär mit, wie ich schon erwähnte, der komischen, unpassenden Rolle Ulrichs, den jeder argwöhnisch einzuschätzen versucht, da nicht offenbar ist, welche Interessen er in den großbürgerlichen Diskursen, die von Unaufrichtigkeit und Infamie durchdrungen sind, vertritt – daher der „Mann ohne Eigenschaften“. Ulrich scheint unberechenbar und daher gefährlich, obwohl er außerhalb der Salontreffen das Gegenteil von beidem ist; unentschlossen, fade, wankelmütig und völlig ohne Ehrgeiz, kurz, jemand der sich erlauben kann, nichts Nützliches zu tun oder Notwendiges tun zu müssen.

Nun, und die ganzen 1000 Seiten, und je nach Ausgabe mehr, drehen sich um jene Vorbereitung der „Parallelaktion“, d.h. das regelmäßige Salontreffen bei Diotima ist der zentrale Schnittpunkt, in dem die illustren Individuen der herrschenden Klassen zusammen kommen. Die Salontreffen halten das Buch in Handlung und Form zusammen, wobei dieser Zusammenhalt mit vielfachen essayistischen Exkursen durchlöchert ist, worin der Geist der Kunst, insb. nietzscheanischer Präferenz, der Musik, der Philosophie, des Sports, der sich anbahnenden Massengesellschaft, der zwielichtigen Winkeldiplomatie, der mechanistischen Soziologie und des technischen Rationalismus einer untergehenden, hochimperialistischen Gesellschaftsordnung, die sich ihres Untergangs nicht bewusst ist – daher die ironische Vorbereitung zum kaiserlichen Jubiläumsjahr – abgehandelt wird. Denn der 28. Juni 1914 leitet, wie jeder Leser weiß, die weltgeschichtliche Revolutionierung aller Völker und Völkerverhältnisse ein. Der Roman fasst den letzten geschichtlichen Abschnitt vor Ausbruch des ersten Weltkriegs ins Auge, in der im freudianischen Sinne „das Unbehagen der Kultur“, das bewusstlose Schlittern in eine brutale Selbstvernichtung zwar abstrakt fühlbar wird, aber undeutlich bleibt, da die herrschenden Klassen, die die literarische Gesellschaft in diesem Roman bilden, von einem konstitutionell-starren, statischen, ja idealistischen Historismus befallen sind, in der Kaiser, Kirche und Vaterland für immerwährend unsterblich zu sein scheinen. So kennt man seine Reaktionäre und Erzkonservativen!

In dieser literarischen Landschaft schafft Musil seinen Mikrokosmos der großbürgerlichen Gesellschaft, der sich allmählich nach vielen Seiten hin entfaltet, und erzeugt den Schein, den Ehrgeiz eines Tolstois zu haben, den Geist dieser, seiner Zeit in ein fulminantes Werk, in sein Opus Magnum zusammenzufassen. Doch, diesen Ehrgeiz angenommen, bleibt die Frage: wo sind die repräsentativen Figuren der ungeheuerlichen, produktiven, von Mühsal, Leid und Not gepeinigten Massen der arbeitenden Klasse, die den größten Teil der Gesellschaft bildeten? Keine Spur, nur Anonymität und grelle Schatten. Diese Tatsache macht den hochtrabenden und ehrgeizigen Roman allenfalls zu einem Sturm im Wasserglas.

Kommen wir zum Resümee: Zuweilen hat man den Eindruck „Der Mann ohne Eigenschaften“ ist ein Versuch Musils, Ansätze einer neuen Lebensphilosophie, angepasst an eine im kapitalistischen Prozess sich entfaltende Massen- und Konsumgesellschaft im Wiener Belle Époque, zu entwickeln, die letztlich doch darin scheitert, dass Ideen in Ideen gesucht werden, bis man alle Betrachter in die höchste aller Ideen aufgeschwindelt hat: der süffisanten und selbstgerechten Hohlheit eines frivolen und niederträchtigen Culte de l’Être suprême, der in seinem verrottend entleerenden Kern tatsächlich eine Unterdrückungsidee ist, welche idealistisch den materiellen Notstand der Volksmassen verklärt oder ignoriert. (Ob dies Teil der Konzeption oder doch Motivation Robert Musils ist, können und wollen wir nicht beantworten. Das Letztere würde uns, gelinde gesagt, Musil zumindest sehr unsympathisch machen.)

Was bleibt? Ulrich begleitet diesen Gang, bis er sich inzestuös verdächtig macht. Diotima findet ihre Lebensbestimmung im Kern des être suprême, also in der betäubenden Entleerung der sinnlichen Lebensfülle. Alle anderen spielen die ihnen zugeschobene Rolle der gesellschaftlichen Vollstrecker und Idioten. Und letztlich gewinnt unübertroffen – wie soll es auch in einem bürgerlichen Roman, gefangen in bürgerlichen Denk- und Lebensschranken, sein – ein widerwärtiger Bourgeois: Paul Arnheim.

Von Mesut Bayraktar, 11.Mai’16

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