Literaturkritik: “Die Räuber” oder Die bürgerliche Freiheit

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Dieses Drama, geschrieben durch Schillers genialer Feder, drängt im geschichtlichen Gang der Menschen jenen historischen Moment zusammen, den man Vorabend der bürgerlichen Revolution nennen darf, in dessen Gefolge ein neues Zeitalter für die Menschheit begann. Die gewaltigen Geburtswehen jener geschichtlichen Zäsur, mit der alle infame Fürstentyrannei und aller primitiver Unrat, legitimiert von Gottes Gnaden, weggefegt wurde, wirken bis in den gegenwärtigen Lauf der Geschichtsepoche nach.

Ja die Zeit der „Räuber“ erinnert die Herrschenden der heutigen Geschichtsepoche daran, dass Geschichte, d.h. permanente Veränderung und Veränderbarkeit der Dinge, ein totales, von Menschen abhängiges Werden in Permanenz, stattfindet, dieses Werden von Ursachen herrührt und in die Zukunft flüchtet, um den Menschen früher oder später als verselbstständigte Gegenwart entgegenzutreten. In sonstigen geschichtlichen Angelegenheiten, die die unendliche Bibliothek der Menschheit, die so alt ist wie die Menschen selbst, berührt, pflegt die bürgerliche Gegenwart frivol ihr Geschichtsbewusstsein auszulöschen, da es ihr darum geht, den Schein posthistorischer Zustände zu wahren und zu konservieren. Sie verhält sich so, als hätte man mit dem Eintritt in die bürgerliche Gesellschaft zugleich seinen Austritt aus dem geschichtlichen Gang vollzogen. Warum? Da die Herrschenden in dem gegenwärtigen Zustand der Gesellschaft eben die Herrscher sind; würden sie das geschichtliche Faktum zugestehen, dass alles, auch die Grundlagen dieser Gesellschaft, dem geschichtlichen Wandel unterliegen und sich permanent umwälzen, dann würden sie ihre Todesurkunde unterzeichnen. Eben dies gestehen Herrschende nicht bzw. nur dort zu, wo sie selbst ihre geschichtlichen Kämpfe geführt, Mythen gebildet und Legenden geschaffen haben, um ihr Selbstbewusstsein darin zu speisen. Deswegen sind Herrschende, Nutznießer wie Gestalter des allgemein bestehenden Gesellschaftszustandes, grundsätzlich konservativ: sie konservieren ihre Herrschaft.

Aber kommen wir von den Herrschern der Gegenwart zu den „Räubern“ Schillers, in denen rückblickend bürgerliche Sagen gesungen wurden, die aber noch aufrichtiges, sentimental-rühriges, ehrliches Freiheitsbedürfnis in sich trugen, da ihnen ihre Freiheit in der damaligen Gemeinschaft der Menschen noch abging, sobald sie betätigt wurde, da ihr Freiheitsdurst mit feudalem Sand zugeschüttet wurde, da schließlich ihre Freiheit bedrückt, verprellt, gegängelt und mit der Geißel erstickt wurde.

Jene „Räuber“ Schillers, personifiziert in Karl Moor, sind die Vorreiter der bürgerlichen Revolutionäre. Ja, es gab auch eine geschichtliche Zeit, in der der heute so hochgelobte freiheitlich-demokratische Bürger noch selbst Gefangener und Unterdrückter einer anderen Gesellschaftsordnung war, ehe er mit seinem Aufstehen seine Gesellschaft, die bürgerliche Gesellschaft, auf den Trümmern des Ancien Régime errichten und entfalten konnte. Beim Schauspiel oder Lesen dieses Dramas wird jede bürgerliche Seele sich an die tobenden Leidenschaften und flammenden Schmerzen wie schreienden Freiheitssehnsüchten erinnern, die seiner Geburt notwendig in seinen Vorfahren vorangegangen sein müssen. In diesem Sinne ist das Drama ein hochfliegend revolutionäres Drama. Dort ist eine Gemeinschaft Freiheitslustiger und –fanatiker, die die drückenden und lahmen Feudalverhältnisse nicht ertragen und daraus den kühnen Schluss ziehen, da ein politischer Kampf aufgrund geschichtlich fehlender Bedingungen unmöglich ist, aus der Gemeinschaft der Freiheitsverächter auszutreten und diese nach romantischem Bürgerpathos als Abtrünnige zu attackieren – nicht im politischen, sondern im leidenschaftlichen, körperlichen und moralischem Sinn. Denn die räuberischen Bürger sehen noch keine bürgerliche Gemeinschaft am Horizont, dem sie in die Arme reiten könnten. Der räuberische Bürger, der dem zivilisierten Bürger heutigen Typus voranging, sieht keine wirksame Mittel zur Auflehnung, sodass er seinem aufrührerischen Instinkt nach zur aufdrängenden Affekthandlung greift, die aus seinem unterdrückten Herzen schäumt, nämlich: zwecklose Gewalt – wie zu Zeiten der Entstehung des Proletariats, die keine politische Gegenwehr auszuüben im Stande waren und daher die Maschinen sabotierten und die Produktionsstätten im Zweifel zerstörten, um ihren Groll und Zorn, die sie sich damals noch nicht aus den sozialen Umständen erklären konnten, Ausdruck zu geben. Die „Räuber“ Schillers beschließen demnach ein gesetzloses Leben zu führen, kurz bürgerliche Terroristen zu werden.

Ohnehin ist Schiller, neben dem gemütlichen Genie der Privatheit, Goethe, das aktiv-revolutionäre, beherzte und enthusiastische Genie der bürgerlichen Freiheit; ob „die Räuber“, die „Jungfrau von Orleons“, „Liebe und Kabale“, „Don Carlos“ oder „Wilhelm Tell“, überall zeichnet sich Schiller als passionierter Schriftsteller der bürgerlichen Freiheit aus. Dieses Element ist das charakteristische Element bei Schiller. Nicht umsonst ist er ein Kind der epochalen Aufklärung, in dessen erstem Teil er nicht gleich Voltaire etc. mitprophezeite, sondern in dessen zweitem Teil, der geschichtlichen Vollstreckung der bürgerlichen Aufklärungsideen, er neben Kant etc. mitwirkte.

Das, was an der Guillotine der bürgerlichen Revolution am 21. Januar 1793 auf dem Place de La Révolution vollstreckt wurde, ist das, was Schiller in seinen Dramen, am offenbarsten in „Die Räuber“, vollstreckt; nämlich, die über Jahrhunderte wachsende und mit einer gewaltigen Wucht sich entladene Empörung gegen die feudale Gesellschaft und die Deklaration der bürgerlichen Gesellschaftsordnung. Hätte der vor diesen Tagen zurückschreckende Schiller nicht den Januar 1793 scharf verurteilt, so könnte man mit Blick auf seine Dramen meinen, Schiller wäre ein geborener republikanischer Jakobiner, ausgestattet mit der guillotinartigen Feder eines lyrischen Marat. Seine Erschrockenheit warf ihn aber in den politischen Kategorien der französischen Revolution in die Rolle eines Girondisten zurück. Kommen wir vor diesem Hintergrund wieder auf das energiegeladene Drama „Die Räuber“ zurück.

Worum geht es? Der regierende Graf von Moor hat zwei Söhne, den älteren Karl und den jüngeren Franz Moor. So wie es das feudale Zeitalter anordnete, gilt das Majoratsrecht, d.h. der Erstgeborene, hier Karl, erbt im Todesfall seines Vaters die Grafschaft, mitsamt den Ländereien. Die Dramaturgie besteht in dem Bruderverhältnis, das sich formal im Majoratsrecht, das Herzstück der Feudalzeit, kulminiert, nämlich darin, dass auf der einen Seite der listige und skrupellose, dunkle Franz sein Schicksal als Zweitgeborener ablehnt und von sich stößt und auf der anderen Seite der freiheitstrachtende und seelenflanierende, abenteuerliche Karl steht, der zwar Erstgeborener ist, aber diesem feudalen Schicksal zumindest anfänglich gleichgültig bis später verachtend gegenüber steht. Er begehrt vielmehr Vergnügen, Lust, Reisen, Sinnlichkeit, idealisierten Materialismus. Dies der Grund, warum er sich nicht in der Nähe der Macht bewegt, um sein Platz zu sichern. Die Nähte der Macht umdunkelt vielmehr Franz, dem kein Kniff zu niederträchtig ist, vor dem er zurückschrecken würde, um seinen Wunsch, Graf zu werden, Wirklichkeit werden zu lassen. Es kommt, wie es kommen muss: der mephistophelische Einfluss des Jüngeren auf den alten, grauen Graf führt auf Basis von Lug und Trug zum Bruch und damit zur Verbannung des Karl aus seinen Ländereien. Allerdings hat der alte Graf eine sehr ausgeprägte väterliche Liebe zu seinen Söhnen, insbesondere zu Karl, sodass er nachträglich über seine Entscheidung in Zweifel gerät. Franz überlegt sich einen weiteren Streich, um seinen „hochfliegenden Geist“, nicht „an dem Schneckengang der Materie ketten (zu) lassen.“* Er lanciert die Umstände so, dass Karl – nunmehr Räuberführer eine Räuberbande geworden – in ein Schlachtgetümmel gerät. Infolgedessen nimmt er an, dass Karl bei jenem Gefecht gestorben sei und rückt so zum Majorat vor. Unduldsam wie Franz sich von seinem Ehrgeiz blenden lässt, eilt er zum alten Graf und teilt ihm jenes Geschehen mit, sodass der alte Graf unverzüglich in Ohnmacht fällt. Ebenso wie den Karl, hält Franz nun auch seinen Vater für Tod und wird kraft seines Majorats der neue Graf. Er nimmt also ohne Skrupel Bruder- und Vatermord für die Gunst der Fürstlichkeit hin.

Diese ganze dramatische Situation, die allzu prosaisch und lokalbeschränkt erscheinen mag, aber eine grundlegende Analogie zu den feudalen Verworfenheiten bildet, wird mit dem Umstand beflügelt, dass die Jugendliebe Karls, Amalia, grenzenlos um Karls Scheintod trauert, wie wiederum Karls tiefe Zerrissenheit durch die Unmöglichkeit, mit Amalia zusammen zu kommen, bis zur lebensmüden Verzweiflung führt. Diese seelischen Umtriebe und moralische Virulenz gipfeln schließlich darin, dass Franz von Jugendzeit an Amalia umschwärmt, diese jedoch sein Liebesgesuch, das er als Graf der Amalia vorträgt, apodiktisch ablehnt. Das ist insgesamt das dramatische Szenario; und man sieht, es ist hochgradig explosiv.

Kommen wir kurz zu den Brüdern im Einzelnen und dann im Verhältnis zueinander, womit genug rezensiert wäre, um den Kernkonflikt freizulegen.

Karl wird dem Zuschauer bzw. Leser, in einem Wirtshaus sitzend und umgeben von Freigeistern, vorgestellt, wie er dort im Plutarch über „die großen Menschen“ liest. Kein Wunder; er will selbst ein großer Mensch werden, hat aber die beunruhigende Intuition, dass seine bürgerliche Seelengröße nicht für die feudale Enge seiner Zeit geboren ist. Er ist ein Gefangener seines Jahrhunderts, da er ein Kind eines zukünftigen Jahrhunderts ist. Denn er klagt: „Mein Geist dürstet nach Taten, mein Atem nach Freiheit!“ Mit der Verbannung, die dem Karl der Anstoß für sein Räuber-Dasein ist, kann er diese an der Lebenssubstanz zehrende Passion nicht anders zu stillen versuchen, als Räuber und Mörder, als, aus dem Standpunkt feudaler Regentschaft, Terrorist zu werden.

Er erinnert nach Charakterart und Seelengröße, Einfachheit und Tiefe, Schmerz und Streben in gewisser Weise an Dostojewskis Dimitri Karamasow aus „Die Brüder Karamasow“; allerdings mit dem Unterschied, dass die Romantik Karls die Sehnsucht nach der erbaulichen Zukunft und die Romantik Dimitris die Melancholie einer idyllisch-süßen, abstrakten Reminiszenz ist. Sie haben dasselbe Wesen, stehen jedoch aufgrund geschichtlich divergierender Epochen im verkehrten Verhältnis zueinander. Sie laufen sich quasi entgegen, Karl, im Inbegriff einer aufsteigenden Klasse, in die bürgerliche Zukunft, Dimitri in die urkaukasisch-russische Bauernweide einer unwiderruflich vergangenen Zeit. In der Unmöglichkeit ihres Strebens liegt ihr beider Verhängnis.

Naja, schließlich war Dostojewski bestens mit Schillers Werken vertraut, wie es heißt, und wenn man – von lyrischen Schiller-Zitaten abgesehen – genau die „Karamasows“ liest, so bemerkt man bei Dostojewski die brennende Schillernote. Teilweise besteht auch eine fadendünne Analogie Karl Moors zu Bert Brechts „Baal“, dem Dichter und Verwüster, aber dies würde an dieser Stelle zu weit gehen. Kommen wir zu Franz.

Franz ist ein abgründiger, amoralischer Charakter, der allerdings die spezifisch feudale List und Klugheit besitzt, mit der zu seinerzeit die Geschicke feudaler Macht manipuliert und gelenkt wurden. Franz hat nur Verachtung gegenüber seinem Schicksal und der Gunst seines Bruders. Aber seine Zeit verachtet er genauso wenig wie Karl sich nach der bürgerlichen Freiheit sehnt. Im Grunde genommen will Franz Karls Schicksal, ohne ein liederlicher Karl zu werden, da er nach Typ und Attributen der prädestinierte Musterfürst des Feudalismus ist. Sein Manko ist aber fatalerweise, dass er nicht der Ältere ist. In ihm repräsentiert sich die feudale Moral, die zu Recht durch die bürgerliche Tugend des Karls ins Schatten gedrängt wird. Franz Charakter im Ganzen ist ein Aperçu der Feudalzeit. Karl ist ein Kolumbus, Vasco da Gama, Walter Raleigh. Franz ist mehr ein Xerxes, ein Urban II., ein Jimenez de Cisneros. Franz ist ein unbewusstes Opfer seiner feudalen Zeit wie Karl bewusstes Opfer derselben Zeit ist, sodass der, der über „große Menschen“ des Plutarch liest, seine Zeitschranken zumindest durch individuellen Terrorismus zu überwinden versucht, wie Franz sich zeitgemäß an das höchstmögliche und erstrebenswerte mit gewohnheitsrechtlicher Arglist emporstreckt: die Grafschaft. Am Horizont des auf den unberührten Hügeln weilenden Karls schlummert die bürgerliche Sonne, die einige Lichter auf die glatte Stirn des Karls wirft. Am Horizont des in seinen dunklen Gemächern nach List geisternden Franz steht die Grafschaft, die ihn in Selbstgeltung und Selbstsucht in alle Seiten durchtreibt. Auch der Brudermord ist Franz praktikabel, so die Notwendigkeit will. Denn „der Mensch entsteht aus Morast und watet eine Weile im Morast, und macht Morast, und gärt wieder zusammen in Morast, bis er zuletzt an den Schuhsohlen seines Urenkels unflätig anklebt. Das ist das Ende vom Lied – der morastige Zirkel der menschlichen Bestimmung, und somit – glückliche Reise, Herr Bruder!“

Wie das Drama schließlich ausgeht, wollen wir natürlich nicht verraten. Allerdings wird jeder Früchte daraus tragen, „Die Räuber“ zumindest einmal gelesen oder im Theater gesehen zu haben. Es ist geschichtlich, einzigartig, verwegen, tragisch und doch ein gen Zukunft gerichteter Kampfruf – sofern der eigene Standpunkt gesellschaftliche Fortschritte in der Zukunft schlummern sieht, d.h. sofern man ein geschichtliches Bewusstsein besitzt.

Doch trotzdem wollen wir aus der Botschaft des Karl Moor lernen. Schließlich rezensieren wir.

Wie geschichtlich alles schlechte Neue ein Verbrechen gegen das gute Alte ist, wird in der geschichtlichen Entwicklung alles schlechte Alte eine Fessel gegen das gute Neue. Und schließlich zeigt sich, dass das, was zunächst verbrecherisch oder räuberisch erschien, tatsächlich gesellschaftlich fortschrittlich und freiheitlich ist.

Das Ancien Régime ist passé und die Karls des Schillers haben nunmehr ihre bürgerliche Freiheit, ja sie haben auch die hochtrabend umschwärmte, repräsentative, bürgerliche Demokratie gewonnen. Allerdings hat schon vor Jahrzehnten der alt gewordene Bürger Karl den roten Karl produziert. Und der junge rote Karl der ungeheuerlichen Mehrzahl, mit dem alles steht oder läuft, wächst oder fällt, kann noch heute von der Sage des jetzt alten, morastigen, konservativen Bürgers Karl lernen. Der rote Karl von heute sei an die Mahnung des noch einst jungen Räuber Karl erinnert: „Halt! Wag es – Moors Geliebte soll nur durch Moor sterben!“

Von Mesut Bayraktar, 11. März 2016

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*Alles in kursiv Gesetzte sind Zitate aus dem Drama

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