Eine Tat entsteht entweder aus der Handlung oder der Unterlassung. Dies kann überlegt oder unüberlegt geschehen. Der überlegten Tat geht das Denken voraus, welches Zeit benötigt. Man könnte nun daraus schließen, dass wenig Zeit zum Denken, unüberlegte Tat zur Folge hat und sich diese unüberlegte Tat in der Handlung oder Unterlassung materialisieren würde. Dieser Gedankengang ist Gegenstand dieser Kurzgeschichte Bölls unter der Nebenbedingung, dass die Handlung verlangt wird; sie genießt Priorität als höchstes aller Gegenstände.
Mit naiven Beschreibungen von Bewerberprozessen und Arbeitsschritten schafft es Böll den Leser durchweg kopfschüttelnd schmunzeln zu lassen, ohne dabei schamlos eben gleichem den Spiegel der modernen Gesellschaft vorzuhalten. Dazu lässt er seinen Protagonisten, der dem Nachdenken zugeneigt ist und die Arbeit ablehnt, gezwungen durch seine finanziellen Schwierigkeiten eine Eignungsprüfung der Alfred Wunsiedels Fabrik unterziehen. Fragen wie „Halten Sie es für richtig, dass der Mensch nur zwei Arme, zwei Beine, Augen und Ohren hat?“, beantwortet er bravourös mit „Selbst vier Arme, Beine, Ohren würden meinen Tatendrang nicht genügen. Die Ausstattung des Menschen ist kümmerlich.“, oder auf die Frage „Was machen Sie nach Feierabend?“, mit „Ich kenne das Wort Feierabend nicht mehr – an meinem fünfzehnten Geburtstag strich ich es aus meinem Vokabular, denn am Anfang war die Tat.“ Diese maßlose Übertreibungen Bölls erinnern den erfahrenen Leser an zeitgenössische Besuche in Assessment Centern und den fast schon perfektionierten Schauspielereien seiner Teilnehmer, die sich zeitlebens akribisch vorbereiteten, in dem viele ihren Lebenslauf über ihr Leben stellten. Die Inszenierung der eigenen Person samt Signalisierung der eigenen Fähigkeiten (welche nahezu alle sind), kennt ausschließlich den Superlativ, da sonst Ausschluss folgt.
Der Protagonist erhält die Stelle und macht sich sogleich an die Tat. Ausgestattet mit neun Telefonen ruft er in die Muscheln der Hörer „Handeln sie sofort!“ oder: „Tun Sie etwas! – Es muss etwas geschehen – Es wird etwas geschehen – Es soll etwas geschehen.“ Dies geschieht sehr zum Wohlwollen seines Vorgesetzten Wunsiedel, welcher in morgendlicher Zeremonie als Gruß der Belegschaft zuruft: „Es muss etwas geschehen!“ Und diese ruft vorschriftsgemäß und frohen Mutes: „Es wird etwas geschehen!“ Diese groteske, handlungsschwangere und sinnleere Bild der Arbeit, das Böll in der Alfred Wunsiedels Fabrik zeichnet, zeigt mit seinen zynischen Darstellungen auf die qualvollen Zwänge modernen Effizienzwahnes, die die Arbeiter und Angestellten in ihren Mikro- bis zu Nanoprozessen zu permanenter Wiederholung in schwindelerregendem Tempo hetzt. Denn ohne das fertige Resultat seiner Handlung zu sehen, benötigt der Handelnde vermehrt das Denken, um das „etwas“ seiner Handlung zu verstehen. Dieses Denken verlangt Zeit, welche allein für das Handeln reserviert ist und deshalb Überlegungen auf ein Minimum beschneidet. Resultat des effizienzgedrungenen Zeitdrucks ist unüberlegte Handlung, die etwas ausführt, ohne dass vom Ausführenden verstanden wird, was dieses etwas ist.
Heinrich Böll kritisiert mit seiner Parabel nicht nur die rasende Geschwindigkeit, mit der Lohnabhängige in einer immer schnelleren Arbeitswelt (weil optimaler, also arbeitsteiliger und schneller) durch den Arbeitstag gehetzt werden, oder die immer sinnloser, weil entfremdeter erscheinenden Aufgaben, die sie zu bewältigen haben, sondern auch die Folgen auf das Selbstbewusstsein der Menschen. Denn entfremdet man sich von seiner Tat, so entfremdet man sich von sich selbst, was dem Bewusstsein von Sich schadet; sei es in Form von Sinn, Wunsch, Eigenschaft, Zwang, Klasse.
So bleibt zu hoffen, dass sich ein Jeder irgendwann seiner bewusst wird, bevor einem Jeden wirklich etwas geschieht, etwas uns allen Gemeinsames: der Tod. Doch für diesen erhofften Wandel muss wohl zunächst einmal etwas geschehen.
Von Andreas Bill, 8.November 2015
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