Polen hat in Europa vielleicht die historisch längste republikanische Tradition, auf die sie zurückblicken kann. Der Republikanismus kommt nicht von irgendwoher, denn die Polen sind mitunter eines der längsten unterdrückten Völker Europas und ein unterdrücktes Volk lechzt stets nach Unabhängigkeit, d.h. nach einer abstrakten Vorstellung von einer Republik. Wie die Geschichte lehrt, kann die Republik selbst mannigfaltige, konkrete Formen annehmen und in königlicher, demokratischer oder diktatorischer Gestalt erscheinen. Aus folgendem Anlass möchten wir nach dem Stand der polnischen Republik nachsehen.
Die ewig Ausgebeutelten Europas heben wieder selbstbewusst ihren Blick auf die Krallen des goldgekrönten weißen Adlers, der seine muskellösen Flügel vor der weiß-roten Flagge ausstreckt und seinen scharfen Schnabel nach heraldisch rechts schmettert. Ihre nationalen Führer erinnern aus Geschichtsbüchern wie Romantiker an die einstige, vor Jahrhunderten im finsteren Mittelalter zu findende Vorherrschaft Polen-Litauens über Osteuropa, die sich quer von der Ostsee bis hin zum Schwarzen Meer ausdehnte. Ihre nationalen Führer wissen, dass jede Nation für die kollektive Einbildung desselben einen historischen Narrativ mit imperialem Anstrich braucht, damit die massenhaft Erdrückten aufhören zu klagen und zu lernen, sondern beginnen an das Wort – den Hunger unterdrückend, einzig an das überstarke Wort – zu glauben. Auch wenn der Hunger zuerst war, und dann das Wort kam. Just in diesem Moment erhebt sich unser nationaler Führer und schwenkt, seine Gesichtszüge advokatisch beherrschend, da er selbst einst das Gesetz zu drehen studiert hatte, seinen Blick über die Schar der Ausgebeutelten Europas. Dann, gleich dem legendären Herzog Lech, ruft der seit fünf Jahren rabenschwarzgekleidete Jaroslaw Kaczyńskis, dessen 2010 verunglückter Zwillingsbruder auch Lech hieß, trauernd und mit nationalergossener Rührung aus: „Siehet, stolze Polen, siehet, da schwebt am Horizonte Warschaus der weiße Adler Polens im Winde und schützt unser Haupt und unsere Ehr‘! Siehet stolze Polen, siehet, sammeln wir uns – wohlgemerkt, schön nach hierarchischer Ordnung, an deren Spitze ich stehe! – unter unser ewiger, mystischer Idee von Religion und Nation zur Wehr! O siehet, stolze Polen, siehet in den Glanz der Ideen, tief in das Schimmern unserer Sonne!“ Anschließend kichert er zu sich: „Na endlich, jetzt sehen diese Tölpel nicht mehr.“
Jede Nation braucht für die kollektive Einbildung desselben einen historischen Narrativ mit imperialem Anstrich
Die Sejm, das polnische Abgeordnetenhaus, das mit dem Senat das polnische Parlament bildet, ist seit dem 25.10.2015 personell neu besetzt. Parlamentswahlen fanden statt. Die dritte Republik Polens ist nach 15 Jahren ihrer jungen Geschichte im rechten Taumel. Die nationalkonservative Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS), die 2001 von den Zwillingsbrüdern Kaczyński gegründet wurde, errang mit überraschenden 38,58% 235 der 460 Sitze und hat somit die absolute Mehrheit auf ihrer Seite. Ein Novum seit dem Zusammenbruch der Volksrepublik 1989. Hingegen ist die „Bürgerplattform“ (PO) mit einem Verlust von über 15% nunmehr zweitstärkste Partei (24,09%). Und die sog. Kukiz’15 Bewegung des rechten Rockstars Pawel Kukiz, der viel von Verschwörung hält und gelegentlich billige „Alle Politiker sind Verbrecher“-Verdummungserklärungen propagiert, stellt mit 8,81% die drittstärkste Partei in der Sejm. Ferner hat die im Mai dieses Jahr gegründete, extrem wirtschaftsliberale Partei des Ökonomen Petru den Einzug mit 7,6% und die konservative „Bauernpartei“ (PSL), der „ewige Koalitionspartner“, dasselbe mit 5,13% geschafft. Die Wahlbeteiligung lag bei 50,92%, wobei die schwache Wahlbeteiligung zur Normalität der polnischen Parlamentsgeschichte seit 1989 gehört und damit keine Überraschung ist. Das Signifikante ist der extreme Rechtsruck in der Sejm, der mit dem Scheitern der postsozialistischen, antiklerikalen „Vereinigten Linke“ (VL), ein Wahlbündnis, und dem zu erwartenden Scheitern der neu gegründeten linken Partei „Razem“ (Gemeinsam), die gerne mit der spanischen Podemos verglichen wird, zusammenfällt, in die Sejm einzuziehen. In der Sejm findet nun die nächsten vier Jahre Heimspiel unter den in ihren unterschiedlichen Ausprägungen rechten Parteien statt, gleichwohl mit einer dauerhaften, d.h. über eine Legislaturperiode hinausgehenden, Dominanz der Rechten in der Sejm zu rechnen ist. Nicht zuletzt haben zwei Drittel der jungen Wähler unter 25 Jahren Parteien rechts der Mitte gewählt. Wie kam es dazu?
Dass die VL knapp den Einzug verfehlte und die PiS dadurch die absolute Mehrheit errang, hat mit dem Achtungserfolg von 3,9% der Razem zu tun. Denn neben ihrer Wählerschaft aus den unteren arbeitenden Klassen und den restlichen jungen Wählern hat sie Wähler aus dem linken Spektrum für sich gewinnen können, die bisher der VL zugeneigt waren. Dadurch fehlten der VL die nötigen Stimmen für den Einzug in die Sejm und die PiS vereinnahmte als stärkste Partei dieses Vakuum. Damit ist die alte Gilde der polnischen Linken zwar endgültig Tod, aber ist damit der überragende Sieg der PiS endgültig erklärt? In parlamentarischer Borniertheit wäre die Rechts-Verschiebung in der Sejm für einen bornierten Parlamentarier hiermit endgültig erklärt. Aber die parlamentarische Borniertheit geht auch davon aus, dass das Parlament das Parlament wählt. Befreien wir uns von dieser Borniertheit, die denkt, das Parlament sei das Volk, und schauen wir auf das Volk, d.h. auf die Verhältnisse, unter denen das Volk lebt, gleichwohl wir nur begründete Überlegungen in zwei Richtungen machen werden, die jedoch unmittelbar für die gesamte polnische Bevölkerung und mittelbar für Europa von Wichtigkeit sind. Denn schließlich hat sich in Polen eine politische Formation gebildet, die imstande ist, die Verfassung zu ändern und damit einen politischen wie institutionellen Umbau des Staates einzuleiten.
Die alte Gilde der polnischen Linken ist endgültig Tod
Wie kam es zu dem Novum, dass die nationalkonservative, streng katholische und seit 2007 zunehmend autoritär auftretende PiS eine absolute Mehrheit errang, obwohl Polen wirtschaftlich stabil, gar seit Jahren kontinuierlich im Aufschwung begriffen ist, trotz der Krise 2008 wuchs und die Arbeitslosenzahlen historisch auf niedrigem Niveau sind? Welche Perspektiven hat Polen, oder richtig gewendet, welche Motive verfolgt der sich in der Rolle des strippenziehenden Patriarchen gefallene Kaczyński mit Polen?

Die herrschende politische Klasse in Polen ist seit Jahren bemüht, auf Gleichschritt mit ihren westlichen Vorbildern zu kommen. Nach dem Zusammenbruch der Volksrepublik hieß der Wahlspruch: radikale Transformation der Strukturen von einer Zentralplanwirtschaft hin zur Marktwirtschaft. An diesem Prozess sind durchweg alle beteiligt gewesen. Auch die postsozialistische VL, die zwischenzeitlich von 2001 bis 2005 an der Macht war, fiel durch Liberalisierung und unternehmensfreundlicher Wirtschaftspolitik auf und wurde deswegen abgestraft. Das zeigt, dass Trend für Linke niemals Strategie, allenfalls Taktik bedeuten darf. Die PO hingegen hat in den acht Jahren Regierungszeit seit 2008 – übrigens die Partei des gegenwärtigen EU-Ratschefs, Donald Tusk – zwar dieselbe Politik, aber forcierter, betrieben, bis sie sich einige Monate vor der Wahl mit den Kumpeln der Bergwerke zerrieb. Die Kumpel hatten sich vehement gegen die Zergliederung der hauptsächlich staatlich verwalteten Bergwerke gewehrt, die aus staatlicher Sicht aufgrund hoher Lohnkosten unwirtschaftlich waren. Ehe aber zugleich durch Liberalisierung weitere unsichere wie gering bezahlte Arbeitsplätze und Arbeitslose wie soziale Unruhen entstünden und daraus Negativschlagzeilen im Wahlkampf folgen würden, handelte die PO einen faulen Kompromiss mit den Gewerkschaften aus, der das Problem nur aufschob. Dabei muss man wissen, dass der polnische Kapitalismus, neben einen ausgeprägten Dienstleistungssektor in den Großstädten, hauptsächlich im Bergbau (Kohle, Silber, Kupfer) seinen Profit generiert, der, wie erwähnt, hauptsächlich in staatlicher Hand monopolisiert ist. Daneben wird Profit in der Anfertigungsindustrie, insb. im Maschinenbau, geschöpft, wobei es sich streckenweise um ausländische Unternehmen, bspw. deutscher Automobilkonzernen wie die Volkswagen AG, handelt, die Teile ihrer Produktionskette aufgrund der vergleichsweise sehr niedrigen Lohnkosten und der logistischen Nähe nach Polen verlegen. (Der durchschnittliche Monatslohn eines Vollzeitbeschäftigten liegt umgerechnet zwischen 600-900 Euro; derzeitiger polnischer Mindestlohn ca. 440 Euro.) Die über ein Jahrzehnt einhellig praktizierte Liberalisierung des Landes, womit sich die politische wie elitäre Klasse den westlichen Vorbildern gefällig machte, brachte jedoch, neben haufenweisen Werbelichtern in Großstädten, kontinuierlichem Wachstum und Reichtum für Wenige, auch gravierende Folgen mit sich.
Das Land mit über 38 Mio. Menschen ist tief gespalten, was bereits geografisch nachzuzeichnen ist. Städte wie Warschau, Poznan Wroclaw, Gdansk und die Region um der Ostsee sind Polens Boomregionen. Der ausgeprägte Dienstleistungssektor ist hauptsächlich in diesen Städten beheimatet, weswegen das Lohnniveau ein wesentlich höheres als der durchschnittliche Lohn andernorts ist. Die Arbeitslosenquote liegt bei stabilen 3-4%. Hingegen ist der Osten wie Südosten des Landes, die von Industrie und Agrikultur leben, mit einer Arbeitslosenquote von teilweise 20% und deutlich geringeren Löhnen trostloser. Eine klassische Trennung der sozialen und Lebensstandards zwischen Angestellten auf der einen Seite wie Arbeitern und Bauern auf der anderen Seite, wie man es bspw. aus der Weimarer Republik kennt, zeichnet sich ab. Zudem muss bezüglich Industrie und Agrikultur zweierlei berücksichtigt werden. Im Hinblick auf den industriellen Bereich besteht erstens eine erhebliche Abhängigkeit zum deutschen Kapitalismus, der Hauptexporteur und –importeur polnischer Industriewaren, also wichtigster Handelspartner ist, was bedeutet, dass Stagnationen in der deutschen Industrie unmittelbar auf die polnische durchschlagen. (Es soll sogar dazu gekommen sein, dass, wenn es mal in China nicht lief und damit Deutschland seine Waren verzögert absetzen musste, die Produktion in einigen Abfertigungsfabriken in Polen zeitweilig stillstanden.) Aufgrund dieses einseitigen Abhängigkeitsverhältnisses fungiert Polen auf dem Standpunkt des deutschen Kapitalismus durchaus als kleine mitteleuropäische Werkbank. Wiederum ist zweitens Russland Polens Hauptabnehmer von Nahrungsmitteln. Seit dem ukrainischen Chaos leidet jedoch Polens Agrikultur erheblich unter den schlechten Beziehungen zu Russland, die Polen anscheinend nicht zu verbessern gedenkt (Aufrüstung, Nato-Truppenverstärkung etc.), obwohl ein friedliches und verständiges Verhältnis zu Russland wirtschaftlich wie politisch ein unverzichtbares Interesse Polens sein müsste. (Hier könnte Polen sogar ein friedenstiftendes Kooperationsglied zwischen Ost-West sein; stattdessen bildet sie geopolitisch ein wichtiges Nato-Glied des osteuropäischen Rings gegen Russland.) Gleichzeitig ist Russland ein Hauptlieferant von Gas und erweckt u.a. mit der Pipeline „Nord-Stream“, das Polen dezent übergehend Russland mit Deutschland verbindet, den Eindruck, dass eine intensive Beziehung zwischen Russland und Deutschland nicht in den Interessen der herrschenden Klasse Polens sein wird, sodass es entweder mit der einen oder mit der anderen Seite, also noch intensiveren Abhängigkeit, die jeweils andere zu isolieren versuchen wird. Spätestens seit der Jahrtausendwende schmiegt es sich zurzeit an Deutschland und versucht gegen Russland zu konfrontieren. Auch nach Osten besteht mithin ein widerwilliges Abhängigkeitsverhältnis, also zu Russland. Der sog. Russenhass, der politisch und ideologisch stets instrumentalisiert wird, spielt hier natürlich das sozialpsychologische Element. Aus diesen spezifischen Gründen, die, wie gezeigt, an außenpolitische Ketten gebunden sind, folgt ein extremer sozialer Unterschied zwischen Stadt und Land: In den Städten leben die Neureichen und das Bürgertum, auf dem Land fristen die ärmeren Bauern und Industriearbeiter wie -arbeiterinnen ihr Leben. Außerdem sind 22% der unter 25 Jährigen arbeitslos, d.h. jeder in etwa Vierte Jugendliche hat keine Perspektive. Hinzu kommt die Auswanderung besonderer Fachkräfte (insb. IT-Bereich) gen Westen, die ein aufsteigendes Land eigentlich für sich braucht. Schließlich sei die Geburtenrate erwähnt, die bei 1,3 Kinder pro Frau (gleich der Rate Deutschlands, also sehr niedrig) liegt.
Eine klassische Trennung der sozialen und Lebensstandards zwischen Angestellten auf der einen Seite wie Arbeitern und Bauern auf der anderen Seite, wie man es bspw. aus der Weimarer Republik kennt, zeichnet sich in Polen ab
Diese Gesichtspunkte zeigen umrisshaft, dass der Liberalisierungswahn, in dem Polen offenbar steckt, und mit dem Polen sich willfährig zum Schoßhund westlicher Industriestaaten gemacht hat, in der Hoffnung, früher oder später mitspielen zu dürfen, das vermeintliche „Wunderkind Osteuropas“ zur Dependance des kleinen polnischen reichen Bürgertums und des mächtigen westlichen Kapitals gemacht hat; zugleich auch zum geopolitischen Vorposten des liberalen Westens gegen den staatsmonopolistischen Osten, namentlich Russland, eingerichtet wurde.
Diese Umstände, die das erste große Wahlkampfthema bilden, hat die PiS nach ihrer nationalistisch-mystifizierenden Leseart gesehen. Hier hat sie mit sozialpolitischen Maßnahmen für Verbesserungen geworben; wie üblich um der Wahlstimme willen, denn selbst liberale Ökonomen berechnen vor, dass die Erfüllung solcher Versprechen nicht erfüllbar sei, ohne den Wachstumspfad zu verlassen, was nicht im Sinne der PiS sein dürfte. Außerdem wird die PiS, die gerne ihre antideutschen Plattitüden mit gleichzeitig antikommunistischer Manier aufsetzt, wie die Regierungszeit von 2005-2007 bewies, um von Wesentlichem abzulenken, die polnische Ost-West-Abhängigkeit zu lockern versuchen, indem sie auf Bündnisse mit Ungarn, Tschechien, Slowakei als europäisches Gegengewicht innerhalb der EU zu insb. Deutschland ausweicht. Bspw. gibt es Meinungsunterschiede bezüglich der europäischen Energiesicherheit, wo Polen auf Kohle setzt (die polnische Stromerzeugung basiert mit bis zu 88% auf Kohle) und Deutschland auf die Energiewende drängt. Dieser Meinungsunterschied wird sich bereits im Dezember im Pariser Weltklimakonferenz zeigen. Ein Grund, der zeigt, dass die PiS ein weiterer Faktor im europäischen Krieg im Frieden ist, der die EU-Einheit zwangsweise weiter dezimiert.
Neben den ökonomischen Strukturen Polens ist die Bevölkerung durchdrungen vom autoritär-klerikalen Nimbus der katholischen Kirche, die, so will man meinen, ihr mitteleuropäisches Refugium in Polen gemütlich eingerichtet und ihr Bollwerk im weiter östlichen Obskurantismus errichtet hat. Unzufriedenheit, die aus körperlichen Anstrengungen folgt und sich mental entlädt, wird von den Religionsmännern eingefangen, ausgesaugt und mit Phrasen biblischer Art verklärt; woran das zweite große Wahlkampfthema anzuknüpfen wäre, die Flüchtlingskatastrophe. Seit Monaten ist eine Isolierung Polens vor Ausländern und Flüchtlingen zu verzeichnen, gleichwohl Polen einen marginalen Ausländeranteil von 0,1% und kaum Flüchtlinge hat. Trotzdem streicht die politische Klasse die kulturelle Isolierung Polens – durchdrungen vom Katholizismus – chauvinistisch an, wenn sie vor dem Hintergrund dieser Tatsachen verlauten lässt, man wolle nur christliche Flüchtlinge aufnehmen, da muslimische die christliche Kultur zersetzen. (Dass solche Relikte des Mittelalters und solche sittliche wie kulturelle Rückständigkeit, also überhaupt die Religion im Allgemeinen wie im Konkreten immer noch gesellschaftliche Themen auch über Polen hinaus im 21. Jahrhundert erfasst, ist historisch betrachtet grotesk! Die Revolutionäre aus 1789, und alle folgenden progressiven Vermächtnisgeber, würden sich zehnmal im Grabe umdrehen und ganz Europa anschließend auslachen, nachdem sie es beweint haben!) In der Flüchtlingskatastrophe weist Polen dieselbe Positionierung wie fast ganz Osteuropa auf, die, aufgrund der weit höheren Bevölkerungszahl, vermutlich in absehbarer Zeit aggressiver und offensiver sein wird, sobald Polen faktisch davon zu spüren beginnt. Bis dahin wird die PiS lieber diskret ihren Beitrag zur Aufrechterhaltung der Flüchtlingskatastrophe leisten, nämlich finanziell, und gleichzeitig die Bevölkerung gegen Flüchtlinge hetzen, flankiert durch Vorwürfe gegen die deutsche Regierung, sie verschulde die Flüchtlingskatastrophe aufgrund ihrer vermeintlichen Willkommenskultur statt ihrer aggressiven Rüstungsindustrie, wo das erstere zwar Unsinn, aber politisch in ihrem Sinne wäre. Auch hier ist dann also ein osteuropäisches Bündnis mit insb. Orbans Ungarn denkbar, das staatspolitisch dieselben nationalkonservativen, katholischen und autoritären Ziele verfolgt und das flüchtlingspolitisch die Drecksarbeit für Polen macht. Schließlich warnte Nationalmystiker Kaczynski noch im Wahlkampf davor, dass Flüchtlinge „Seuchen“ mitbringen könnten und insb. die städtische Bevölkerung glaubt diese und die Staatspropaganda Ungarns. Dieses, das zweite große Wahlkampfthema musste natürlich in die Hände der PiS spielen.
Unzufriedenheit, die aus körperlichen Anstrengungen folgt und sich mental entlädt, wird von den Religionsmännern eingefangen, ausgesaugt und mit Phrasen biblischer Art verklärt

Doch was will der 66 Jährige Kaczynski eigentlich, der als Vorsitzender und Strippenzieher der PiS weder Staatspräsident noch Regierungschef werden wollte, obwohl er eines der beiden Ämter für sich hätte aussuchen können und beide doch den ihm gegenüber loyalen PiS-Funktionären überlassen hat (Duda, im Mai 2015 zum Staatspräsidenten gewählt/Szydło, designierte Ministerpräsidenten)? Kaczynski gilt nun in Polen als eines der mächtigsten Männer. Obzwar Polen verfassungsrechtlich derart konstituiert ist, dass der Staatspräsident wie die Sejm sich wechselseitig durch Vetorechte blockieren können, bündeln sich beide Ämter in der die institutionellen Kräfte ausgleichenden Hand Kaczynski’s, die ihm eine besondere, väterliche Rolle zukommen lässt. Für dieses Ziel hat er gezielt die letzten Jahre seine Partei umgebaut. Vor zehn Jahren, zuzeiten, wo sein Bruder Lech Kaczynski noch lebte, war die PiS eine karrierefördernde Partei von einer bunten Mischung verschiedener konservativer Intellektueller. Heute wirkt sie wie ein radikal-traditionelles, paternalistisch-nationalistisches und sektiererisches Bataillon, das sich als Retterin der Nation gibt und in dessen Mitte der rabenschwarzgekleidete Kaczynski die Ordre erteilt.
Am Wahlkampfabend erklärte Kaczynski demnach bezeichnend: “Wir werden zeigen, dass das öffentliche Leben in Polen völlig anders aussehen kann, dass wir stolz auf dieses Land sein können.”
Ein Beispiel für das „völlig Anders-Aussehen des öffentlichen Lebens in Polen“ lässt sich durch das rassistische Gebaren der Fidesz in Ungarn erschließen, mit denen die PiS früher oder später in ein Arrangement treten wird. (Unter Rechten wird wie unter Reichen arrangiert und das Arrangement anschließend mit wechselseitiger, d.h. profitabler Solidarität etikettiert.) Das „Zeigen“, also nach außen zur Schau stellen, des „anders-Aussehens“ wird vor allem Deutschland zu spüren bekommen, indem Polen nach einem Jahrzehnt Transformation als Schoßhund zum Schoßhund mit Beißern transformiert ist und sein sog. nationales Selbstbewusstsein zur Geltung bringen wird. Da interessieren das Leid und die Armut der jungen wie arbeitenden und Bauernbevölkerung nicht, die mit ihrer ungeheuerlichen Mehrzahl das wahre Polen ausmachen und deren Solidarität eine schier andersartige, eine universalistische ist als die des Arrangements. Diese Solidarität wird sich freimütig und gewaltig erst dann zeigen, sobald durch die Desavouierung des religiösen Elends, das die Tiefenstrukturen in Polen benetzt, ihr der Weg freigelegt wird.
Heute wirkt die PiS wie ein radikal-traditionelles, paternalistisch-nationalistisches und sektiererisches Bataillon, das sich als Retterin der Nation gibt und in dessen Mitte der rabenschwarzgekleidete Kaczynski die Ordre erteilt

Und, was den „Stolz“ des Nationalmystikers Kaczynskis betrifft, der sich selbst zum nationalen Führer erhoben hat, so spricht er von seinem persönlichen Ehrgefühl, von seinem Stolz auf sich, von der missionarischen Sehnsucht in die Fußstapfen des nationalen Volkshelden der zweiten Republik Józef Piłsudski zu treten, den er als Jugendlicher verehrt haben soll. Mit ihm hat er zumindest gemein, gegen die Sowjetunion – wenngleich in unterschiedlicher Form – gekämpft zu haben, die Republik – wenngleich in unterschiedlicher Form – verteidigt zu haben und – was Kaczynski noch erledigen müsste, um mit Piłsudski gleichauf, d.h. nationaler Volksheld zu werden – Polen in eine polizeistaatliche Diktatur zu verwandeln.