Leutnant: „Ein Kind am Strand!? … Lebt es noch?“
Grenzsoldat: „Nein; die Augen sind leer, die Haut aufgedunsen. Es ist tot, es ist seinem Schmerz entbehrt.“
Leutnant: „Wo kommt es her?“
Grenzsoldat: „Der kalte Ozean hat es ans Land gespült, wie Abfall auf kahle Erde abgesondert.“
Leutnant: „Doch warum wagt es sich auf die hohen Gewässer zu dieser kalten Zeit?“
Grenzsoldat: „Ach, wer vermag nicht alles, wenn der Bauch nach Hunger schreit und die Heimat verwüstet in Bomben und ausländischem Profit sich verzehrt. Hunger rechtfertigt alles.“
Leutnant: „Man sagt, es sei ein Flüchtlingskind?“
Grenzsoldat: „Was tut’s zur Sache aus welchem Hause es ist. Es ist ein Kind, es war ein armes Kind, ein Menschenkind. Ein Kind in Armut und Not. Das ist’s doch, das zählt.“
Leutnant: „Na sehen sie, dieses Ungemach von Schaffen durch Schurken und Schleusern. Alles Kriminelle!“
Grenzsoldat: „Wer schafft die Schleuser?“
Leutnant: „Soldat, beherrschen Sie sich, Sie sind im Dienst. Zu fragen müssen sie fragen; Vorschrift! Moral ist fehl am Platz.“
Grenzsoldat: „Doch Moral ist’s nicht, Leutnant; es ist Hunger und Unschuld.“
Leutnant: „Erklären Sie sich.“
Grenzsoldat: „Leutnant, ich unterstehe meinem Soldateneid, doch sehen Sie, ein hungriges Kind. Dieses ist gefunden, doch wie viele sind vom Meer verschluckt; Der Kopf mag verstehen, doch für’s Herz ist’s unbegreiflich. Unter allen Schuldigen und Schurken ist doch das Kind immer der Unschuldige.“
Leutnant: „Freilich Soldat, die Zeiten sind hart und unsere Seite auf Erden satt. Drum möchte ich nicht verschweigen, dass ich ihre Schmach versteh‘. Wir sind aber Soldaten, haben Pflicht und Weisung. Unsere Aufgabe umfasst unseren Teil auf Erden, was Europa und Deutschland heißt; jedem sein Elend, jedem sein Schmaus, jeder sein Teil. Mit dem Rest haben wir nichts zu schaffen, weder Verantwortung noch Schuld noch Pflicht. Wir sind Nation und Oberbefehlshaber schuldig zu tun, was verlangt wird. Wir sind Grenzschützer! Also Soldat, des Wehleidens ist genug, der Wehklage keine Zeit; zurück zum Posten – das ist ein Befehl.“
Grenzsoldat: „Leutnant, erlauben Sie in Betreff meiner Soldatenpflicht dann noch eins
zu fragen?“
Leutnant: „Fragen Sie Soldat, aber für heut soll’s dann auch reichen.“
Grenzsoldat: „Wenn wir unbeteiligt sind, vor was schützen wir die Grenzen?“
Der Leutnant verstummte und zog erbleichenden Gesichtes wortlos ab.
*Alan Kurdi, geboren, 2012 inmitten des syrischen Bürgerkriegs; ertrunken, 2015 auf der Flucht nach Europa im Mittelmeer; Tot aufgefunden, am 2. September 2015 nahe Bodrum an einem türkischen Ufer.
Von Mesut Bayraktar, 12.Juli’16 / Illustration von Lukas Schepers
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