Kurios, nebulös, unfassbar: Je weiter und tiefer der Leser ins Dickicht des Romans, Wort für Wort, absteigt, desto undurchdringlicher und sperriger wird er, bis er, der Leser, auf eine Unzulänglichkeit stößt, die ihm zur Bedrohung erwächst. Man ist beunruhigt. Man beginnt unruhig zu lesen und beendet verwirrt zu fragen, welche Übermacht die Geschicke des K. lenkt. Selbst das unbeabsichtigt offene Ende ist charakteristisch für den ganzen Gang des Romans: eine sich wiederholende Beklommenheit auf Endlosschleife, die sich mit jeder Wiederholung ausdehnt und jeden Gedanken vereinnahmt. Man schließt das Buch und ist am Ende da, wo man am Anfang war.
Die Freiheit des K. geht ihm stets voraus. Die Folge ist, dass er ihr vergeblich nachzuspüren scheint, ohne sie erlangen zu können. Er ist der Gefangene seiner Freiheit, weil seine Freiheit die Freiheit des Schlosses ist. Als Landvermesser soll er ein Teil jenes Grundstücks, auf dem das Schloss des Grafen sich befindet, vermessen, also Klarheit über die (Boden-)Verhältnisse schaffen, sodass er mit der Absicht zu messen die in sich ge- und verschlossen Gemeinde betritt, mit Unterbeamten einer skurrilen Hierarchie zu kommunizieren versucht, sich anschließend auflehnt, da man ihn ablehnt und er endlich kein Ausweg mehr findet, als nur diesen, einer von ihnen, dieser bizarren, dubiosen und geheimen Gesellschaft, zu werden – sich zu integrieren.
Warum? Aufgrund des existentiellen Bedürfnisses des Menschen nach persönlicher und sozialer Anerkennung, wobei das Zweite das Erste impliziert.
Wie? Er will das Unverständliche verstehen und begreift zunehmend, dass das Verständliche unverständlich ist.
K. ist der ausgeladene Gast, der seine Ohnmacht vor der Macht des Systems begreift und dadurch die Nichtigkeit seines Anspruchs ahnt, welchen der Leser geneigt ist als die Sinnlosigkeit des K. zu konstatieren. An dieser Stelle besteht eine innere Verknüpfung mit der elementaren Parabel aus dem fragmentarischen Werk Franz Kafka’s „Vor dem Gesetz“.
Trotzdem K. nicht ins Schloss gelangt, sich ihm nicht einmal annähert, eine Trennwand zwischen Schloss und Gemeinde zu bestehen, ja das Schloss in ominöser Transzendenz zu schweben scheint, ist es doch jenes Schloss, das allgegenwärtig obwaltend seine Freiheit bestimmt und ihn wie ein dichter Nebel umschließt, sodass er in jener Undurchsichtigkeit sich voran tastet und an Schranken trifft, die ihm unbemerkt einen rückwärtsgewandten Weg weisen, einen Weg, der die vollkommene Aufgabe seiner Freiheit bedeutet. K. ist unterlegen und die ihm gegenüberstehende Überlegenheit jedermanns, so als würde Alles etwas wissen, was er nicht weiß, welche im Schloss gipfelt, ist das Geheimnis, was er als Landvermesser ohne Aussicht auf Erfolg aufzusuchen begehrt.
Das Schloss, eine vielseitig denkbare Allegorie, wie das beim Stil Kafka’s, der Fiktionalität, nicht selten der Fall, vielmehr seine Qualität ist, hat, wenn man sich erst ein Begriff vom Postulat des Schlosses gemacht hat, eine unermessliche Auflehnungskraft. Dieser Roman hat, so verzweifelnd und betrübend er dem ersten Eindruck nach sein mag, den Mut, seinen Protagonisten schonungslos zu unterdrücken, um, bei weiterer Reflexion, auf die erste Bewegung der Emanzipation zu verweisen, die jene Unterdrückung in seinen Grundfesten aufbricht, nämlich auf die Revolte.
Es handelt sich um Emanzipationsliteratur; um gefährliche Literatur, sowohl nach innen als auch nach außen; Gefährlich, da ein Gegenstand erst gefährlich wird, wenn er eine Lage in Frage stellt, dessen Bestehen ein Privileg und dessen Beseitigung eine Bedrohung für bestimmte Adressaten darstellt. Solcher Literatur stehen ihrem Wesen nach natürliche Feinde gegenüber. Die natürlichen Feinde des „Schlosses“ sind die Herrschenden – die Herren der kleinen und die Herren der großen Ordnung, die Herren im privaten und die Herren im öffentlichen Leben, die Herren über den Geist und die Herren über den Körper, kurzum, die Herren der Welt.
Vielleicht ist das Schloss kein Gebäude, sondern ein Riegel, der eine Tür verschließt, hinter der sich das Geheimnis der Privilegierten, das Feuer des Olymps, welches Prometheus den Menschen überbrachte, verbirgt, mit der sie deine Freiheit unterdrücken, indem sie sie bestimmen – so wie sie es mit K. tun.
Von Mesut Bayraktar
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