Harry Haller, der Steppenwolf, ist im Alter von 50 Jahren des willfährigen, scheinheiligen, angepassten, intellektuell-bürgerlichen Lebens überdrüssig geworden, welches ein Band um sein Herz enger zu schnallen bemüht ist, um es in seinen Takt einzureihen, wo doch das Herz aus eigenen, freien Stücken wahrer, schöner, höher, lauter zu pulsieren weiß. Haller versucht sich mehr und mehr den Übergriffen zu entziehen und den Reinklang seines Herzschlags, der doch einer eigenen Komposition folgt, zu bewahren.
Er will sich nicht mit oberflächlicher Harmonie und scheinbarem Gleichgewicht stillen lassen, weil er spürt, dass das Leben mehr sein muss. Ist es nicht so: Man erfährt das Leben erst in der Unabgewogenheit, einer Unüberlegtheit, in einem Extrem, überraschend und ergreifend, und nicht in der stumpfen Mäßigung. Doch zurück zu Haller: Die biedere Ödnis ist Haller nicht gefällig. Er meidet jedweden Kompromiss, solcher Art, wie sie die Bürger pflegen und sich darin befleißigen bürgerlich zu sein, obgleich schließlich ein Kompromiss sein Los zu sein scheint, da Hallers Zwiespältigkeit, eine rigorose Konsequenz hin zur völligen Entwurzelung behindert. Er ist jedoch beharrlich und bleibt ungefügig und ungemütlich – Ein wütender Geist! In dieser, seiner kategorischen Ablehnung stürzt er sich in eine mit Schmerzen erfüllte und mit den Verheißungen einer Verjüngung lockende Existenzkrise. Er wählt „Alles-oder-Nichts“ und landet doch im „Mehr-oder-Weniger“, also endlich wählt er das Chaos.
Seine Dramaturgie, die den Roman in eine Unruhe einbettet und beim Leser eine Anspannung erzeugt, sobald er sich in sie versenkt, liegt darin, dass Haller weiß, was er nicht will, aber nicht weiß, was er will. Das Wissen um seinen Unwillen und das Unwissen um seinen Willen ist das Verhängnis, das ihn zerreißt.
Eine ausweglose Situation, die jeder lebensdurstige Aussiedler kennt, aber die beim Steppenwolf das Ausmaß einer existenziellen Frage, die des Suizids, erreicht und sich in tiefen, seelischen Leiden ergießt. Konfrontiert mit einem Scheiterhaufen, erdrückt von Wänden vor und hinter ihm, einsam angesichts seiner unseligen Pein, übermannt vom Widerwillen sich und der Welt gegenüber, ergriffen vom Ekel gegen das bürgerliche Glück, versucht er nunmehr, unbeholfen und desorientiert, seine dunkle Sehnsucht zu lichten.
Dann, in der tiefsten Aversion gegen die Eitelkeiten der bürgerlichen Ordnung, flattert ihm ein Schmetterling, hell und glanzvoll und sinnlich, auf die Brust, auf sein Herzschlag – Hermine – und führt ihn in die Entzückungen samt Leichtigkeiten des Lebens: Tanz, Bälle, Feten, Trinkstuben, Eskapaden, Vergnügungen … Sich selbst und seine Leiden in den narkotischen Freuden des Hedonismus vergessend entscheidet sich der Steppenwolf für Resignation anstatt Kampf.
Eine tragische Figur, die, nach individueller Erlösung suchend, ihre Freiheit aufgibt.
Von Mesut Bayraktar, 4.Februar 2015
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