„Mexiko in Aufruhr“ – John Reed

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20150108_225212Mexiko.

Tequila, Tortillas, Drogenkriege – mein vor allem durch amerikanische Filmproduktionen geprägter Eindruck von diesem Land und seiner Bevölkerung ging nicht über Vorurteile und gängige Klischees hinaus. Ich konnte mir durchaus vorstellen, dass Mexiko auf eine abenteuerliche Geschichte zurückblicken kann, Schauplatz außergewöhnlicher Ereignisse war – für eine weitergehende Recherche reichte es jedoch nie. Wahrscheinlich wäre für mich dieses so faszinierende wie raue Land noch heute eine mit Klischees versiegelte Kiste, wenn der amerikanische Journalist John Reed nicht dieses Buch geschrieben hätte.

1914. Inmitten eines vom Bürgerkrieg zerrüttenden Landes schloss Reed sich der armen Bevölkerung in ihrem Kampf gegen ein brutales Militärregime an. Bewaffnet lediglich mit seiner Kamera und einem an Todessehnsucht grenzenden Mut, wollte er nicht beobachten, nein er wollte erleben. Es ging ihm weniger um die Ereignisse, als um die Menschen, die an diesen teilnahmen, sie prägten. Das mexikanische Volk begegnete ihm mal feindselig und mal herzlich, hier leidenschaftlich und dort verschlossen, manchmal skeptisch, aber immer authentisch. Mit Bescheidenheit, Respekt und ehrlicher Neugier gewann der junge Harvard-Absolvent ihr Vertrauen. Und mit ihm der Leser. Zusammen tanzen sie stundenlang durch die schwüle, mexikanische Nachtluft, essen Tortillas genauso oft an Lagerfeuern wie am Tisch einer gastfreundlichen Familie und gehen an der Seite von Freunden einer Schlacht entgegen, die für viele den Tod bedeutet.

Mich bewegten Schicksale von Menschen, die an einem weit entfernten Ort vor 100 Jahren gelebt, gekämpft und gelitten haben. Stets litt ich mit und bedauerte, sie nicht kennengelernt gelernt zu haben. Genau dieses Gefühl im Leser hervorzurufen, ist der Verdienst John Reeds. Der Autor versucht mit seinen Worten keine Geschichte zu erzählen, nein er möchte, dass wir genau wie er selbst, das unergründliche Bedürfnis verspüren, etwas zu erleben. Und dieses Verlangen nach Neuem, diesen Drang nach Abenteuer und Leidenschaft, zu befriedigen, bleibt Reed nie schuldig.

Fast keine revolutionäre Bewegung der Geschichte kam je in den Genuss von objektivem Journalismus und John Reed bildet hier keine Ausnahme. Mit jedem Satz ergreift er Partei. Partei für die Hungernden, die Unterdrückten und die Ausgebeuteten. Geprägt von der sozialen Ungleichheit in seiner Heimat, verpflichtet er sich nicht der Objektivität, sondern dem Streben nach einer gerechten Gesellschaft.

Mehr als einmal riskierte der junge Journalist sein Leben um die Seele des wirklichen Mexikos, die Stimmen so vieler tapferer und einzigartiger Menschen, nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Mit dem Lesen dieses Buches, mehr als einem Jahrhundert nach seinem Erscheinen, zollen wir John Reed den Respekt, den er für diese Leistung verdient.

 

Von Daniel Polzin

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