Gedichte

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Welche Funktion kann heute noch ein Vers – dessen Wortlaut schon betagt, langweilig, ja vertrackt klingt – haben? Was macht einen Vers aus?
Runtergebrochen sind Verse im ursprünglichen Sinn wesentlich durch zwei Merkmale charakterisiert: Ästhetik in Form und Prägnanz im Wort. Da die Turbulenzen der Gegenwart alle romantische Idylle umstülpen, ist die Ästhetik – einst noch das stille Wesen der Lyrik – selbst als unzeitgemäße Kategorie zum Erfassen der Wirklichkeit hinfällig geworden. Die unbeschwerte Ästhetik vergangener Zeiten hält den Beschwerlichkeiten der bestehenden, unruhigen Zeit nicht stand. Daher ist die klassische Ästhetik uninteressant, sie ist verbraucht, verweichlicht, an­ti­quiert. Sie zu adaptieren hieße, abgeschmackt und stillos zu sein.
Nun drängt sich die Prägnanz des Wortes zum bestimmenden Merkmal zeitgenössischer Verse auf. Diese übrig gebliebene Prägnanz im Wort, gelöst aus der ästhetischen Form, eröffnet die Möglichkeit zu wagen, durch ungebundene Zeilen die mit Schwadronade kaschierten Wahrheiten im präzisen Wort zu dekuvrieren, um einen unverblümten Blick auf die flüchtigen Feinheiten der seelischen Unruhen wie des gesellschaftlichen Kausalkomplexes zu werfen. Der heutige Mensch, dessen ganzes Sein gesellschaftlich total umschlossen ist, braucht klare, profane statt zahlreiche, sublimierende Wörter, damit er versteht, statt desillusioniert über seinen Zustand zu verbleiben. Dazu halten wir das Gedicht, prägnant in Form und Wort, für geeignet. Will das Gedicht sich im 21. Jahrhundert bewähren, muss es selbst dem Gang der Zeit nach reformiert werden. Dazu muss es prägnant bleiben, profan werden, hellsichtig sein.

„Eilet herbei, alle
Die ihr abgesägt den Ast, auf dem ihr sitzet,
Werktätige!
Gott ist wiedergekommen
In Gestalt eines Öltanks.

Du Häßlicher,
Du bist der Schönste,
Tue uns Gewalt an,
Du Sachlicher!“
-Aus ‚Siebenhundert Intellektuelle beten einen Öltank an‘ von Bertold Brecht