„Natürlich kann man hier nicht leben“ oder So wie es ist, kann es nicht bleiben

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Özge Inan erzählt in ihrem Debütroman „Natürlich kann man hier nicht leben“, der 2023 im Piper-Verlag erschienen ist, eine politische Geschichte, die von der Flucht junger türkischer Intellektueller, Gewerkschafter, Journalisten und Kommunisten nach Deutschland erzählt. Wie sie zwischen ihrer Heimat und ihrer Freiheit stehen und auch Teile von sich selbst aufgeben müssen. Der Roman ist der postmigrantischen Literatur zuzuordnen, und doch erzählt er eine ganz andere Form der Migration derer, die nicht als Gastarbeiter nach Deutschland kamen. Die Geschichte beginnt Ende 2013 in Berlin, in der Wohnung von Hülay und Selim, bei ihrer fünfzehnjährigen Tochter Nilay, die gespannt die Gezi-Park-Proteste gegen die Regierung unter Recep Tayyip Erdogan verfolgt und die apathische Anteilnahme ihrer Eltern über die Lage ihres Heimatlandes nicht versteht. Sie entschließt – sie muss nach Istanbul, sie muss dabei sein, wenn etwas passiert, was größer ist als sie. Sie träumt von einer Revolution.

1980, Izmir, die Militärdiktatur

Über 17 Jahre begleitet der Roman Nilays Eltern Selim und Hülay bis nach Berlin zurück zu ihrer Tochter. Dabei verändert der 12. September 1980 alles für die beiden, ihre Familien und Freunde. Es ist das Datum, an dem der General Kenan Evren sich an die Macht putschte und sofort alle politischen Parteien und Vereine verbietet, so auch die TKP, die türkische kommunistische Partei, in der Selim Mitglied ist, und die Untergrundzeitung, für die er schreibt. Auch wenn Nilay ihre Eltern nur als mittelalte Erwachsene kennenlernt, die ihr drängendes Gefühl nach Istanbul zu gehen nicht zu verstehen scheinen, begegnet uns Selim als Zehntklässler, der gemeinsam mit seinem Freund Ozan für die türkische kommunistische Partei arbeitet. Die Partei tritt durch Kontaktpersonen, geheime Treffpunkte und verschlüsselte Informationsübermittlung in Erscheinung. Ab 1980 erleben Selim und seine Weggefährten verstärkt Repressionen in Form von Gewehrläufen im Rücken, Verhaftungen, Folter, Tränengas und blutigen Lippen. Dabei ist die Erhängung des 17-jährigen Erdal Erden ein besonders eindrückliches Ereignis, das für viele eine Beschleunigung der Repressionsspirale bedeutete. Einige tauchen unter, werden versteckt. Sie lesen Marx und Lenin, tauschen verbotene Bücher, die Selim im Buchladen vertreibt.

Wie die Repression zermürbt

Ohne zu überladen, fließt die Geschichte, die multiperspektivisch erzählt wird, zügig durch die historischen Ereignisse, die nicht ausführlicher erläutert und vor allem durch die Leben von Selim und Hülay erfahrbar werden.
Es ist von Faschisten, Kommunisten und Nationalisten die Rede, stellenweise lässt sich allerdings die Tiefe vermissen, die die politischen Ereignisse und Bewegungen in einen Kontext setzten.
Özge Inan bedient sich einer klaren Sprache, die poetisch reduziert, aber nicht schmucklos ist. Rhetorisch starke Bilder sind verstreut zu finden, säen allerdings den Wunsch nach einer stärker literarisch gestalteten Sprache, die sich nicht gänzlich entfaltet.

Sie gibt einen einzigartigen Einblick in die politischen Verhältnisse der 80er- und 90er-Jahre in der Türkei und nimmt dabei einen parteiischen linken Standpunkt ein. Über die Jahre hinweg spinnen sich die Fäden von Nilays Familie chronologisch zusammen, verbunden durch die Erfahrung des Widerstands: Hülays Vater wird wegen politischen Aktivitäten zu einer Haftstrafe verurteilt, als sie noch ein Mädchen ist, Selim sieht seinem Schulfreund an, wie monatelange Haft und Folter einen jungen Mann altern lassen können und erlebt es schließlich selbst. Die zahlreichen Figuren, die Inan in ihrem Roman vorstellt, sind stets eindrücklich, authentisch und in ihrem Menschsein ausdifferenziert erzählt. In überzeugenden Dialogen und häufig nur kurzen Einblicken der Jahre, die uns eingeteilt in Kapiteln begegnen, lernen wir ihre großen Träume, die kleinsten intimen Gedanken, die schambesetzten Gefühle kennen, begleiten sie beim Erwachsenwerden, erfahren vom Sprühen ihrer Hoffnungen nach einer besseren Türkei oder der Ungewissheit, als monatelang der Kontakt zur Partei abreist. Sie erzählt von der Resignation, dem Leichtsinn und der Angst, die Misstrauen zwischen Freunden und Liebespaaren streut, und schließlich vom Verrat.

Der Gegenwert der Freiheit

An der Ege Universität in Izmir treffen sich schließlich die Erzählstränge von Hülay und Selim. Hülay studiert Medizin und ist in studentischen Initiativen der Frauenbewegung aktiv. Sie ist eine junge Frau, die versucht, sich aus den morschen kulturellen Konstruktionen von Norm und Erwartung zu zwängen, die sie am Leben ihrer Mutter oder ihrer großen Schwester Canan beobachtet. Schließlich wird Selim zur Beihilfe der Terrorpropaganda angeklagt. Hülay erfährt, dass sie schwanger ist. Der einzige sichere Weg führt nach Deutschland. Ihrer Freundin Banu sagt sie: „Natürlich kann man hier nicht leben. Aber deshalb haut man doch nicht einfach ab.“ Plötzlich muss sie für einen Mann „ihr Leben auf links drehen“, ihre Heimat verlassen. Sie flüchtet mit zwanzig Jahren in ein Land, dessen Sprache sie nicht spricht, ohne Ausbildung, mit einem abgebrochenen Studium, schwanger. In ihr blitzt immer wieder die Frage auf, wer sie ohne all das geworden wäre, Gynäkologin in Istanbul? Auf der Flucht hat sie etwas verloren: „Und trotz allem war da eine Sehnsucht in ihr, die sie nicht erklären konnte, ein Gefühl, als vermisste sie jemanden, den sie nie wiedersehen würde.“

Der rote Faden, der sein anderes Ende nicht findet

Inans Roman schafft es, eine beständige Spannung aufrechtzuerhalten, mal getragen von den Hoffnungen auf politische Erfolge der Figuren, der ständigen Gefahr durch die Militärdiktatur oder faschistische Gruppen, wie den Grauen Wölfen, gefunden zu werden, der ersten Liebe und schließlich der Frage, wie man zwischen all dem auch etwas Glück findet. Der Leser begleitet Selim und Hülay dabei selbst mit Freude, Gänsehaut, Schwere in der Brust und dem Hoffen auf einen weiteren Zusammenstoß. Bis auf die letzte Seite werden lose Fäden der Geschichte und der übrigen Figuren wieder aufgegriffen. Nur einer, der dickste rote, bleibt gerissen; die Frage, was aus der kommunistischen Partei, der Bewegung geworden ist und schließlich der Revolution, bleibt bis zum Schluss offen.

Özge Inan hat eine Geschichte über junge Menschen geschrieben, die politischer kaum sein könnte und dringend erzählt werden musste. Man darf gespannt sein, welche weiteren literarischen Arbeiten von Özge Inan in Zukunft zu lesen sein werden.

 

Alina Essberger, 01. August 2024


Özge Inan  „Natürlich kann man hier nicht leben“

Piper Verlag, Berlin 2023

Hardcover, 240 Seiten, 24 €