In Linda Herrmanns Debüt wird der Pflegearbeit und ihren Verhältnissen die eigene Melodie vorgespielt.
Eine junge Frau drückt auf die Klingel. Kurze Zeit später betritt sie die Wohnung eines fremden Mannes. Sie ist nicht zum ersten Mal hier. Die wenigen Räume sind klein, zugestellt und überhaupt in einem schlechten Zustand. Sie durchquert den schmalen Flur ins Schlafzimmer. Dort liegt der Fremde. Früher war er mal ein Profibasketballspieler, aber das ist lange her. Er hat sein Bett seit Monaten nicht mehr verlassen. In dem Zimmer steht der Geruch von Exkrementen. Ein Ekel überkommt die junge Frau. Sie lässt es sich nicht anmerken und schaut auf die Uhr. Dann macht sie sich an die Arbeit.
Drei Jahre lang war die 1996 geborene Autorin Linda Herrmann als ungelernte Pflegekraft in einem ambulanten Pflegedienst in Berlin tätig. Ihre Einarbeitung dauerte drei Tage, dann schickte man sie auf ihre ersten Touren. In dem Vorwort zu ihrem kürzlich erschienenen Erzählband „In Arbeit“ schreibt sie, dass für sie als Pflegerin immer der Mensch im Zentrum stand. In ihrem literarischen Debüt geht es ihr um die Pflegearbeit an sich, um Alltag, anstatt um den Extremfall. Das merkt man den Erzählungen an, die auf Herrmanns Erfahrungen beruhen, aber fiktional überarbeitet wurden. Wenn die konkrete Arbeit die Fensterscheibe ist, durch die wir als Leser Einblicke in die Leben der Patienten erhalten, sind die Arbeitsbedingungen ihr Rahmen, der erst das Fenster macht. Das Fenster ist klein und vergittert, ebenso wie die 14 Erzählungen von „In Arbeit“ kurz und stellenweise undurchsichtig sind. Besonders aussagekräftig sind dahingehend die streng getakteten Zeiteinheiten, die Herrmann pro Patient zur Verfügung stehen und die sie in jeder Erzählung auflistet. „48 Minuten habe ich ab jetzt Zeit für ihn, das heißt: 48 Minuten, um die Leistungskomplexe abzupflegen, deren Addition 48 ergibt: kleine Körperpflege (15 Minuten), Zubereitung einer kleinen Mahlzeit (7 Minuten), Darm- und Blasenentleerung (8 Minuten), Einkauf (18 Minuten).“ So sieht neoliberale Ökonomisierung der Pflege und Gesundheit aus.
Zeit ist Geld
Gelegentlich fühlt man sich als Leser betrogen: Kaum hat man einen Patienten kennengelernt, wird man schon zum nächsten hinausgeworfen. Dieser Betrug ist beabsichtigt. Pflege ist eine Arbeit am Menschen, am Körper, der hilfsbedürftig ist, an verbrauchten Seelen, meist nach jahrelanger Arbeit. Im Kapitalismus liegen diese aus der Verwertung herausgefallenen Körper auf einem Fließband. Sie müssen abgearbeitet werden, möglichst schnell, möglichst kostengünstig, möglichst noch mit Profit. Herrmann macht aus der Leerstelle ein starkes, zuweilen aufrührerisches Erzählelement, mit dessen Hilfe es ihr durchaus gelingt, an den Herzen ihrer Leser zu rütteln. „Hier gelte das Prinzip satt, sauber, still, wie mein Chef einmal sagte.“
Erlaube dir keinen falschen Schritt
Obwohl man der Autorin für ihren Ansatz und seine konsequente Umsetzung beglückwünschen darf, hätte ihrem Debüt etwas Mut, über die eigene Erzählweise und -perspektive hinauszugreifen, nicht geschadet. Nur selten fordert Herrmann die Sprache so weit heraus, dass ein poetischer Moment entsteht, der sich aus der Enge des Sachzwangs herauswinden kann; ein Moment, der den Leser soziale Realität erleben lässt. Stellenweise kommt die Sprache zu trocken daher, zu sehr wie eine Reportage. Es fehlt das Gegenstück, der Blick von der anderen Seite, gegen den sich Herrmann allerdings bereits im Vorwort ausspricht: „Bei der Pflegearbeit begegnen sich mindestens zwei Parteien, eine davon bin immer ich. In diesem Buch teile ich nun meine Seite der Begegnungen mit, denn diese Seite ist meine Geschichte.“
Dabei geht Herrmann äußerst vertrauensvoll mit den Geschichten ihrer ehemaligen Patienten um, empathisch und niemals moralisierend – zum Glück, es hätte dem Erzählband geschadet. Zudem demonstriert sie auf authentische Weise die Verwertungslogik bürgerlicher Gesellschaftsverhältnisse am ausrangierten Körper, der vereinsamt unter schlechten Wohnbedingungen sein Leben – meist seine letzten Jahre – verbringen muss. Sie veranschaulicht außerdem der arbeitenden Klasse, dass sie im Kapitalismus immer über ein dünnes Seil läuft, worunter ein Abgrund ist, über dem kein Netz hängt, das sie auffängt. Es ist kein Netz für sie vorgesehen. Nur der Abgrund.
Von Kamil Tybel, 28. Mai 2024
Linda Herrmann „In Arbeit“
re:sonar Verlag, Hannover 2024
112 Seiten, 14,00 €

