Literaturkritik: „Lawinengespür“ oder Politisches Geschehen als Grundrauschen

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Thematisch ist das Debütwerk von Paula Schweers nicht leicht einzuordnen. Mal Charakterstudie, mal Gesellschaftsstudie, bildet am Ehesten die Suche nach Orientierung, dem berühmt-berüchtigten „Platz in der Gesellschaft“, einen inhaltlichen Fixpunkt. Vermag die Darstellung dieser Orientierungslosigkeit zwar phasenweise zu überzeugen, werden Möglichkeiten ihrer Überwindung leider kaum deutlich.

Aus der Provinz in die Großstädte

Bayrisch Eisenstein ist eine kleine Gemeinde mit knapp unter 1000 Einwohnern. Der Wikipedia-Eintrag liest sich harmlos, die Bilder bei Google sehen idyllisch aus. Weniger harmlos und weniger idyllisch ist Noras Blick auf das kleine bayrische Dorf: leerstehende Glashütten, Drogen, Tristesse, Gleichgültigkeit. Hier ist sie mit ihrem fünf Jahre älteren Bruder Leo aufgewachsen, hat „tumben Männern“ beim Holzmachen und Verbrennen von Amazon-Kartons zugesehen und gelernt, mit Lawinen umzugehen. Als sie 13 ist, brennt das Elternhaus ab und Leo verschwindet. Zehn Jahre später ist Nora Studentin in Berlin und Leo Vagabund in Moskau. Ausgangs-, End- und in steigendem Maße auch Bezugspunkt der Handlung bleibt aber das wenig idyllische Bayrisch Eisenstein – das bei der Protagonistin offenbar mehr hinterlassen hat, als nur das titelgebende Gespür für herannahende Lawinen.

Paula Schweers‘ Erstling ist zeitlich und örtlich verschachtelt. Sie springt kapitelweise von Nora in Berlin zu Leo in Moskau und in den Kapiteln selbst regelmäßig zurück in die bayrische Provinz. Effekt dieser Verschachtelung ist, dass Lesende dazu angehalten werden, vor dem Hintergrund zumindest ähnlicher Ausgangsbedingungen beide Lebenswege zu vergleichen, Verbindungen zu suchen, Unterschiede zu sehen. Stilistisch ungewöhnlich, aber dem Zweck nicht undienlich, werden Verknüpfungen auch durch die fast wortgleiche Wiederholung von Gedanken oder gar einzelnen Erzählungen geschaffen. Könnten im Übrigen die äußeren Umstände nach Leos Verschwinden kaum entgegengesetzter sein, fällt inhaltlich auf, dass beide Geschwister letztlich das Gleiche tun: verzweifelt nach einem Halt, nach einer Orientierung suchen. Mit der Erfolglosigkeit dieser Suche gehen sie dann allerdings wieder auf ihre eigene Weise um.

Balance und Überschaubarkeit

Nora verbringt ihre Tage zwischen Bibliothek, Bett, einem Thai-Restaurant, wo sie sich mit ihren Freundinnen trifft und einem Autowerk, in dem sie nachts arbeitet. Scheint zu Beginn trotz augenscheinlicher Überbelastung noch eine fragile Balance in ihrem Leben zu herrschen, wird diese zunehmend durch Panikattacken, Motivationslosigkeit und Selbstzweifel erschüttert. Viel Anlass für irgendeine Art von Balance bietet Leos Leben hingegen von vornherein nicht. Seit seiner Jugend drogenabhängig, schlägt er sich mittlerweile mehr schlecht als recht in Russland durch, weil er dort mal ein halbes Jahr in einem Internat war und „die schönste Zeit seines Lebens“ hatte. Sein Anschluss an eine Gruppe mehr oder weniger netter, aber reichlich zwielichtiger Obdachloser führt zu seiner kaum überraschenden Verwicklung in kriminelle Aktivitäten. Wo Nora fehlender Orientierung mit Rückzug begegnet, von ihr paralysiert wird – da begegnet Leo ihr mit Rausch, Ablenkung, Handeln ohne Nachzudenken. Von wirklicher Veränderung sind beide keine Freunde.

Nicht zuletzt deshalb bleibt die Handlung überschaubar. Viel passiert bei Nora außer dem ein oder anderen Konflikt mit ihrem Umfeld nicht. Der Handlungsstrang um Leo ist zwar deutlich temporeicher, die Kapitelübergänge mit Cliffhangern versehen, aber: von ihrer Spannung leben beide Handlungskomplexe dramaturgisch nicht. Im Vordergrund steht die Auseinandersetzung mit sich selbst und der eigenen Vergangenheit, wobei die gegenwärtige Umgebung eher als Impulsgeber fungiert. Deutlich wird diese Schwerpunktsetzung auch daran, dass ab der zweiten Hälfte immer mehr Erzählungen in Rückblenden stattfinden, was insbesondere bei Nora die Gegenwartshandlung fast vollständig in den Hintergrund treten lässt. Einige Handlungselemente, wie eine immer wieder erwähnte Preisverleihung, verabschieden sich klammheimlich aus der Geschichte. Auch das Potential der im Grundsatz gut gezeichneten Nebencharaktere bleibt bisweilen auf der Strecke. Seien es Noras beste Freundinnen, die verwöhnte, oberflächlich-sorgsame Jasmin und die alleinerziehende, um Kinder und Lebenstraum kämpfende Harriet oder sei es Leos Mit-Vagabundin Ira. Im Zuge der Fokussierung auf die inneren Konflikte der Protagonisten wird bei ihnen auf Tiefe verzichtet, die ihnen und der Geschichte gut getan hätte. Dass der Text dennoch dynamisch wirkt, verdankt er seiner einerseits bündigen, auf kurze Sätze bauenden und andererseits sehr plastischen, metaphernreichen Sprache. Einzig: sie lädt auch dazu ein, sich – und den roten Faden – darin zu verlieren.

Gute Beobachtungen als Randnotizen

Armut, Prekarität Studierender, Prekarität Alleinerziehender, die Unerbittlichkeit von Arbeits- und Wohnungsmarkt, die Klimakatastrophe, die Abgehobenheit der Reichen, die Not der weniger Reichen – die Autorin beobachtet viel. Aber: sie ordnet kaum ein. Es dominiert ein sarkastischer Grundton, eine halb gleichgültige, halb verzweifelte Weltsicht, in der Zusammenhänge und Schlussfolgerungen nur wenig Platz haben. So sagt auch Nora selbst, dass für sie das „politische Geschehen, die Trends, das Meer aus Stimmen, Einordnungen, Analysen“ ein „Grundrauschen“ erzeugte, das sie „nicht besonders ernst nahm“. Fast folgerichtig bleibt ihre Charakterentwicklung dürftig. Wie beiläufig beschreibt sie, dass ihr Freund Boris im Werk für die gleiche Arbeit fünf Euro weniger verdient, wie beiläufig fragt sie, wer hinter Bessergestellten, die nach innerer Ruhe suchen, die Yogamatten wegräumt und die Böden wischt, wie beiläufig streut sie in drei bis vier Sätzen die Anekdote ein, wie viele aktive Neonazis es in Brandenburg gibt und das ein Ort der Ruhe für sie ein Ort der Angst für andere ist. Zweifellos gute Beobachtungen, bleiben sie ohne Rückkopplung an die Handlung oder das Aufzeigen von Zusammenhängen Randnotizen, gehen unter in einem Meer weiterer Beobachtungen und Anekdoten. Schweers hat ein erstaunlich gutes Auge für die vielen kleinen und noch kleineren Macken unserer Zeit, aber unternimmt nur wenig, den Leser am Ende nicht genauso orientierungslos zu hinterlassen wie ihre Protagonistin.

Doch: enthält die Darstellung dieser aus vielen Einzelteilen bestehenden, teils resignierenden, teils sarkastischen Welteinstellung nicht die implizite Kritik daran? Wer diese Weltsicht bereits kritisch sieht, wird sich sicher bestätigt fühlen – wer nicht, vermutlich aber genauso. Die reine Darstellung eines Missstandes ist nicht zwangsläufig ein Beitrag zu ihrer Überwindung. Ein zentrales Problem ist, dass die Titelhelden zwar scheitern, aber der Grund ihres Scheiterns nicht deutlich wird. Es erscheint weniger als Folge bestimmter gesellschaftlicher Umstände, denn als Folge nicht gelöster Probleme ihrer Kindheit und Jugend, bleibt aber auch als solches eher vage. Das Grundrauschen unzähliger gesellschaftlicher Beobachtungen will sich nicht recht zu einem Ganzen fügen – die psychologische Ursachenforschung an der Kindheit im bayrischen Dorf aber auch nicht.

Verzerrtes Bild

Schließlich muss noch angemerkt werden, dass es beim Handlungsstrang von Leo natürlich die künstlerische Freiheit der Autorin ist, den Ort des Geschehens zu bestimmen. Da die behandelten Themen – Obdachlosigkeit, Kriminalität, Homophobie – alle auch in Deutschland hätten inszeniert werden können, ist der einzige Effekt der Verlagerung nach Russland allerdings, dass sie uns zeigt, wie furchtbar dieses Land ist bzw. sein soll. Ob Fahrstühle, Heizungen oder Wohnungsbau: nichts funktioniert. Man höre „Gruselgeschichten von Folter an allen Ecken“, auf den Dörfern seien die „Herzen der Menschen […] hart wie die spanischen Pfirsiche, die sie unter der Hand in ihren Läden verkauften“, Schwule werden auf der Straße angespuckt, Hunde gejagt und Medien verbreiten „Unmögliches, Unlogisches oder Widerwärtiges“. Was immer Schweers bewogen hat: einen Beitrag zur derzeit so notwendigen Völkerverständigung hat sie mit ihren Zeilen sicher nicht geleistet.

Werkzeuge und ihre Nutzung

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Autorin über eine gute Beobachtungsgabe für interessante Alltags- und Gesellschaftsphänomene unserer Zeit verfügt. Zusammen mit ihrer Sprachgewandtheit und einem ausgeprägten Gespür für Momente sozialer Ungleichheit, ist ihr literarischer Werkzeugkasten vielversprechend gefüllt. Bei „Lawinengespür“ gelingt es ihr indes noch nicht, diese Werkzeuge zur Formung einer einheitlichen, ausdrucksstarken Geschichte zu nutzen. Der Roman ist – vom undifferenzierten Russlandbild abgesehen – ein durchaus realitätsnaher Blick auf die Welt, allerdings ein Blick wie durch ein Zugfenster: schnell wechselnde Eindrücke, die alsbald verblassen.

Von Daniel Polzin, 27. Februar 2024

Paula Schweers „Lawinengespür“
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt a.M. 2023
256 Seiten, 24,00 €