Literaturkritik: „5 Tage im Juni“ oder Streik im Sozialismus?

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Der 17. Juni 1953 ist fest verankert im kollektiven Gedächtnis der deutschen Bevölkerung. Das berühmte Schwarz-Weiß-Bild, auf dem zwei Arbeiter, am Straßenrand stehend, schwungvoll Steine auf anrollende Panzer werfen, prangt auf unzähligen Briefmarken und Gedenktafeln. Was die Analyse jener denkwürdigen Ereignisse angeht, herrscht in der heutigen Geschichtsschreibung weithin Einigkeit: die unterdrückten Arbeiter der DDR leisteten heldenhaft und gerechtfertigt Widerstand gegen das diktatorische Regime der SED. Arbeiter gegen Arbeiterregierung – das war schon damals für die Führung der BRD ein solch gefundenes Fressen um die vermeintliche Überlegenheit gegenüber dem östlichen Nachbarn zu untermauern, dass keine Woche später eine Straße in West-Berlin nach dem Tag benannt und er schließlich noch im selben Jahr sogar zum offiziellen Nationalfeiertag erkoren wurde. Für den Westen und somit auch für uns heute, war die Sache eindeutig: die Arbeiter wollten Demokratie und Freiheit und zwar bürgerliche Demokratie und bürgerliche Freiheit. Doch entspricht das der Wirklichkeit?

Ein Paar Fragen werfen die Ereignisse durchaus auf: In der DDR gehörten die Produktionsmittel den Arbeitern – wie konnten sie unfreier sein als ihre Kollegen im Westen, die weiterhin an den Maschinen der Kapitalisten arbeiteten und auf deren Gunst angewiesen waren?
In der DDR wurde im Interesse der Bevölkerung, nicht des Profites, produziert – wie konnte das undemokratisch sein?

Die Unzulänglichkeit westlicher Analysen liegt darin begründet, dass sie stets vom kapitalistischen Verständnis von Demokratie und Freiheit ausgehen, welches mit dem sozialistischen jedoch nicht zu vergleichen ist. Stefan Heym versucht in seinem Zeitroman „5 Tage im Juni“ nun diesen Mangel zu überwinden, in dem er aus der Sicht der Arbeiter schreibt und unabhängig von ideologischen Phrasen aufzeigt, welche realen Lebensumstände wirklich zu dem Aufstand geführt haben.

Im Zentrum der fiktiven Handlung, welche am 12. Juni einsetzt, steht die Belegschaft des VEB (volkseigener Betrieb) Merkur um den Gewerkschafter Martin Witte und sein näheres Umfeld. Er hat die schwierige Aufgabe eine Art Vermittler zu sein zwischen den Arbeitern und der staatlichen Führung, einerseits die Interessen seiner Kollegen zu vertreten und ihnen andererseits die Beschlüsse der SED verständlich zu machen. Weil er ein freundschaftliches Verhältnis zu seinen Arbeitskollegen pflegt, vertraut die Belegschaft Witte und so erfährt er von ihrer Unzufriedenheit über die beschlossenen Normerhöhungen der Regierung, d.h. die Erhöhung der Arbeitsintensität bei gleicher Entlohnung. Die Arbeiter fühlen sich ausgebeutet und sehen keinen Unterschied zu der Zeit, als sie noch Lohnabhängige in kapitalistischen Unternehmen waren – erneut gibt es für sie die „da oben“, denen sie scheinbar blind zu gehorchen haben. Bei einem nächtlichen Gespräch vertraut der Arbeiter Kallmann Witte seine Sorgen an und es fällt ein großes, in der Vergangenheit geglaubtes Wort, dass bisher kaum einer wagte auszusprechen: Streik.

Streik? Im Sozialismus? Witte versteht sein Gegenüber nicht: Der Betrieb gehört dem Volk – will er denn gegen sich selbst streiken? Die Normerhöhungen dienten doch nicht der Bereicherung von Einzelnen, sondern dem Aufbau der gesamten Gesellschaft. Alle würden letztlich davon profitieren, das könne man doch nicht mit der kapitalistischen Ausbeutung vergleichen. Ungeachtet dieser Gedanken beginnt der erfahrene Gewerkschafter sich zu fragen, wie es soweit kommen konnte und ahnt bereits, welche verhängnisvolle Bewegung die Normerhöhungen ausgelöst haben könnten.

Anfang der 1950er Jahre befand sich die DDR in einer ungeheuer schwierigen wirtschaftlichen Situation. Nicht nur hatte der Krieg einen Großteil der Produktionsmittel, des Wohnraums und der Infrastruktur zerstört, auch war die neue Besatzungsmacht der mit Abstand größte Leidtragende der besiegten Naziherrschaft. Statt wie der sowieso schon an Rohstoffen reichere Westen Deutschlands wirtschaftliche Unterstützung zu erhalten, diente der Osten dem Wiederaufbau der verwüsteten Sowjetunion. Vor diesem Hintergrund lag die Hauptaufgabe zunächst in der Sicherstellung der Grundbedürfnisse der Bevölkerung, wie der Schaffung von Wohnraum, ausreichend Bildungseinrichtungen oder medizinischer Versorgung. Der Lebensstandard des Westens konnte unter diesen Bedingungen unmöglich erreicht werden und anschaulich schildert Heym in seinem Roman die Unzufriedenheit der Menschen über Produktmangel, Rationierung oder fehlende Auswahl. Das war es, was der durchschnittliche Arbeiter beim VEB Merkur am Ende des Tages sah und nicht, dass seine Mehrarbeit dem Aufbau der Zukunft galt; anstatt mehr Geld in der Tasche zu haben, wurde vielleicht in einer fernen Stadt eine Wohnanlage errichtet oder die Versorgung von Krebspatienten verbessert. Die Bedeutung seiner Arbeit war ihm nicht bewusst und so fühlte er sich genauso entfremdet von ihr wie zu Zeiten des Kapitalismus. Der Gewerkschafter Witte verstand die Situation, doch er vermochte nicht, sie den Arbeitern zu verdeutlichen. Die Regierung schließlich nahm zwar die Normerhöhungen zurück und gestand Fehler ein, aber die losgetretene Bewegung konnte sie damit nicht mehr aufhalten…

Anhand verschiedener Einzelschicksale verdeutlicht der Autor spannend und authentisch, nicht nur, wie es zu den Ereignissen am 17. Juni kam, sondern auch woran es dem Sozialismus der DDR im Allgemeinen mangelte und wie schwierig der Aufbau einer klassenlosen Gesellschaft zum damaligen Zeitpunkt war. Angesichts der dramatisch einseitigen und lediglich aus ideologischer Sicht betrachtenden Analysen der meisten BRD-Historiker, ist Heyms Roman ein überzeugendes Beispiel dafür, wie Geschichte wirklich geschrieben wird.

von Daniel Polzin, 21. Januar 2016

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