Ein Konzert auf Spanisch

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Ein Musiker mit langer Nase und wachen Augen, die scharf beobachten und gleichzeitig stets ein „Was geht mich das an?“ vermitteln, spielt auf seiner Klarinette. Lange, harmonische Töne, mit Passagen von schnellem Auf und Ab möchte man meinen, wie man sie von Jazz-Konzerten kennt, oder aber katalanischen und osteuropäischen Zigeunerliedern, wo Klarinettenklänge gepaart mit Gitarren, Geigen, Kontrabässen und natürlich einem Akkordeon Hüften bewegen. Musik ist immer schwer in Worte zu fassen; hoffen wir, die Erfahrung hilft hier aus und ein Klangbild wird klar. Und jetzt, vergesst das Klangbild wieder! Dieses staubige Ideal! Weg damit! Was dieser Musiker da spielte, ist alles andere als das Altbekannte. Es ist verrückt. Fast wahnsinnig! Aber nur fast, denn dem Spiel hing dazu ein zu deutlicher Hang zur Lächerlichkeit, Vergänglichkeit, Ironie und Mut inne. Diese Dreieinigkeit und der Mut dazu erzeugen Klänge voll Chaos, vergleicht man sie mit dem wohlgeformten, melodischen Klangbild von zuvor. Dieses Chaos steht für sich ohne Gleiches und was bleibt, ist die Zurückgeworfenheit auf den Zuhörer, auf sich selbst. Und es drängt sich eine Frage auf: nicht, „Ist das auch richtig?“, sondern, „Wie finde ich das?“
Es folgt ein Film. Ein Stummfilm in schwarz-weiß. Es folgt ein Stummfilm über ein Konzert, welcher durch den Musiker mit seiner Klarinette (und Bassklarinette) begleitet wird. Und es gibt im Film nicht viel zu sehen. Ein Musiker mit einer Klarinette auf einer Bühne spielt und bewegt durch Zuckungen der Ellbogen, Beine und Schultern seinen Körper. Ihm gegenüber ein Publikum, von allem ein wenig dabei, Kinder, Alte, Junge, Reife. Familien, Liebespaare, Lebenspartner und eine Frau, alleine in der ersten Reihe. Sie alle hören zunächst erstaunt, dann verstört, dann unruhig, dann fliehend zu, oder eben nicht mehr zu. Sie alle, außer der Frau in der ersten Reihe. Sie sitzt ruhig da, wiegt ihren Kopf gelegentlich nach links, dann nach rechts und schaut immer nur den Musiker mit aufgerissenen, neugierigen Augen an. Sie staunt ohne zu werten, sie sammelt ohne zu wissen, was es ist. Sie lässt dieses Kunstwerk des Musikers auf sich wirken, ohne der scheinbaren Imperfektion eine verfrühte zu attestieren. Sie wartet auf das, was noch kommt und der langnasige Musiker lässt es offen und sagt, ohne zu sprechen: „Was geht mich das an?“ Doch das ist Teil der Kunst und nicht Teil des Musikers, denn gewahr der fliehenden Zuschauer rennt er diesen wütend hinterher und peitscht ihnen durch unvernehmbare Zurufe (es ist ja ein Stummfilm) zusätzlich ein.
Was bleibt, ist der Musiker. Und die Frau. Nein! Doch! Oh! Und das genügt. Es genügt dem Musiker, um weiterzuspielen und die verrückte Musik genügt der Frau, um nicht vom Platz zu rücken und zu bleiben. Und eine Ahnung drängt sich auf: sie fragt sich wohl noch immer, wie sie es findet. Sitzt da, staunt, wiegt den Kopf und grübelt. Ja und ich auch. Ich spüre plötzlich die Nacktheit des Musikers, der ohne Konventionen dasteht und spielt, schwitzt, pustet, zappelt und spielt. Wie findet man das? Wie finde ich das? Man-Ich. Universell-Individuell. Schnell-Langsam. Reibungslos-Reibung. Gedanken zur Mündigkeit wirbeln durch den Kopf, bis der Kopfschuss da ist: „Es muss nicht gelingen, um zu gelingen.“ Oder besser: „Man muss nicht gelingen, um selbst zu gelingen.“ Ich erinnere mich an eine noch junge Erkenntnis über die drückende Perfektion, die überall presst, schiebt, zwickt und schreit, und fühle mich freier und leer. Ja, wo ist er jetzt der Sinn, die wünschenswerte Vergleichsmenge, wie es sein sollte? Es kommt die ganze Bande zurück, Kinder, Alte, Junge usw., irritiert über den Fortgang des Spiels und sie setzen sich, staunend, wieder hin und tun es der Frau in der ersten Reihe gleich. Staunen ohne gleich zu werten, sammeln ohne gleich zu wissen, was es ist.
Porträts! Ein kleiner Junge mit Sommersprossen, kurzem Haar, gekämmt zur Seite und kurzärmligem Hemd mit gefaltetem weißen Kragen. Was denkt der kleine Schüler jetzt über sich, seine Lehrer, ihre Regeln, über institutionalisierte Ziele und das Absolute? Was immer er denkt, die Vergleichsmenge hat sich gedehnt und vergrößert. Ein Mann Mitte Vierzig, mit Schnäuzer und dunklen Augen, trägt leicht welliges Haar mit einigen weißen Strähnen und ein T-Shirt ohne Motiv und Marke. Was meint er gerade über seine Arbeitsstelle zu wissen, seine tägliche Routine, Kollegen und Chefs, ihre Beziehung, ihr Machtverhältnis, seinen Lohn und das Absolute? Was immer er denkt, gedanklich könnte bald schon mehr möglich sein. Eine Oma mit weißem Haar, dicker Lesebrille und faltigem Gesicht, von Krähenfüßen bis zu zerfurchten Stirn- und Wangengräben, die Abbild eines treibenden Lebens sind. Mit solchen Augen, die nicht bonzig, wässrig träumen, sondern das Leben, seine Dinge und ihre Preise kennen, schaut sie konkret nachdenkend statt schwammig träumend vielleicht auf ihre Leben zurück. Prüfend. Und überlegt das erste Mal seit langem wieder über das ‚was wäre wenn‘, das für sich allein krank macht, wenn nicht das ‚was soll sein‘ darauffolgt. Die Frau hat Erfahrung, sie wird beides denken.
Ja, das alles blitzt durch den Kopf beim Blick auf diese Porträts unter Einflussnahme der Musik und ich denke: Was hab ich nicht alles gedacht. Was hab ich nicht alles schon gemacht. Was mache ich. Und was hat die Musik nicht alles zertrümmert. Durch sie erscheint alles in seiner konkreten Einzelheit, Mauern in ihren einzelnen Kieselsteinen und Sandkörnern, Gesetze in ihren durch fette Hände verfassten Worten und Buchstaben, Beziehungen in ihren konkreten ökonomischen Strukturen und dadurch alles schlussendlich fragil und veränderbar. Und ich spüre einen Mut zur Tat in Selbstgenügsamkeit. Ein Meisterwerk. Ist es da noch wichtig, dass die Frau taub war?

Von Andreas Bill, 15.Dez`17 / Foto von Kamil Tybel


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