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„Kunst ist eine Lüge, die uns die Wahrheit erkennen lässt.“
– Pablo Picasso
Was bildet unser Weltbild, wenn nicht Geschichten?
Sie erscheinen uns in den verschiedensten Kleidern. So etwa in Briefen, in Gesprächen, in Novellen sowie in Romanen, in Geschichtsbüchern, in Filmen und sogar in den Nachrichten. Alles, was außerhalb unserer direkten Wahrnehmung liegt, reduziert sich zu einer Erzählung; einer Rede und Behauptung, deren Wahrheitsgehalt bis zu dem Zeitpunkt einer eigenständigen Prüfung ungewiss bleibt. Selbstverständlich hat jedes Wort seinen Bezug zur Wirklichkeit, ansonsten wäre es nämlich gänzlich nutzlos, dennoch gilt es diesen Bezug zu verifizieren. Und sollte uns nicht die Zeit, oder die Ressourcen zur Verfügung stehen, um z.B. nach Indien zu fliegen, um sicherzustellen, dass es wirklich existiert – ebenso wie es uns auf der Karte dargestellt wird – so bleibt uns noch immer ein Mittel, um die Wirklichkeit aus der Distanz zu überprüfen: Unser Verstand. Unsere Waffe des Zweifels, welche die Lüge von der Wahrheit und die objektive Wirklichkeit von der subjektiven Realität zu unterscheiden vermag.
Besonders in diesen eng verworrenen Zeiten, die uns als Heimat aufgebürdet wurden, verwischt dieser Bezug schnell und maßgeblich. Wir sind dermaßen eingebettet in Geschichten, dass uns nicht mehr aufzufallen scheint, dass diese Erzählungen sich in vielerlei Hinsicht widersprechen und sogar ausschließen. Da es uns aber nach wie vor unmöglich ist, die Fülle des Treibens auf diesem Planeten als Einzelner in seiner Ganzheit zu erfassen, bilden Geschichten nichtsdestotrotz weiter die Grundpfeiler unseres Verständnisses, was zur Folge hat, dass der Teppich der Selbstbestimmung unter unseren Füßen hinweg gezogen wird. Denn, wie soll man sich auch im Leben zurechtfinden, sich richtig entscheiden, wenn man gar nicht verstanden hat, was richtig ist? Wie, wenn das Urteil auf reinen Ahnungen aufbaut? Es wundert demnach nicht, dass viele an den Konsequenzen ihrer eigenen Taten verzweifeln und jammern, da es ihnen unverständlich bleibt, warum ihre – dem allgemeinen Weltbild folgende – getroffenen Entscheidungen in unerwarteter und unerwünschter Weise ausgehen.
Doch hier kann das literarische Wort mit einem kräftigen Fußtritt gen Boden greifen. Denn der Dialog mit einer gelungenen Geschichte eröffnet uns nicht nur die Möglichkeit, den Reichtum der Wirklichkeit in all seinen fein verwobenen Wahrheiten zu erfassen und so Orientierung zu gewinnen, sondern er schafft es darüber hinaus, die erstarrte Sprache neu zu beleben – Sprache ist nämlich ebenso tückisch wie der stetige Wandel der Wirklichkeit. So diente sie am Anfang für den Menschen als Instrument zum Ausbruch der individuellen Isolation, kehrte sich aber mit der Zeit in ihrer Funktion um und drängt ihn nun mehr dazu. Anders gesprochen: Wörter, die wir erfanden, um uns Ausdruck zu verschaffen, fungieren nun als Beschneidung. Nicht wir formen die Sprache, sondern sie uns.
Da jede Geschichte einen Prozess vollzieht, funktioniert sie somit ähnlich wie das Leben selbst. Man kann es sich als ein Wort in Bewegung vorstellen. Ein Wort, das die Dynamik der Wirklichkeit konkreter und entsprechender wiedergibt und unsere Welt so zu beleuchten vermag, dass wir nicht jeden Schritt bewusstlos und ängstlich beschreiten müssen. Somit findet die Lüge ihre Legitimation in ihrem Bezug zur Wahrheit. Dementsprechend liegt es in unserem und im Sinne des Lesers, jede Geschichte und Erzählung eben auf einen solchen zu überprüfen, ansonsten bleiben die hier ausgesprochenen Wörter hohl und trügerisch.
Willkommen in der Prosasektion von Nous.