Oscar Wilde: „Der Künstler ist der Schöpfer schöner Dinge“

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1895 steht der großartige viktorianische Schriftsteller Oscar Wilde vor Gericht. „Was nun Dorian Gray betrifft“, beginnt der Verteidiger Carson. Im Kreuzverhör möchte er Wilde der Homosexualität überführen. In dessen Roman Das Bildnis des Dorian Gray sucht er nach Beweisen. „Ich hätte gerne eine Antwort auf diese einfache Frage. Haben Sie je dieses Gefühl verspürt, eine schöne männliche Person, die viele Jahre jünger war als sie selbst, rasend zu verehren?“ Wilde: „Ich habe noch nie jemanden verehrt – außer mir selbst.“ Das Publikum bricht in Gelächter aus.
Der Prozess erinnert an die Apologie, die Gerichtsverhandlung gegen Sokrates: Jemand wird angeklagt, der seinen Anklägern rhetorisch wie intellektuell weit voraus ist.
Der besagte Roman erschien fünf Jahre zuvor. Es ist Wildes einziger Roman und auch sein bedeutendstes Werk – neben einer Reihe von Dramen, Märchen, Gedichten und Essays, die er schrieb. Er handelt von Dorian Gray, einem Dandy von makelloser Schönheit aus der viktorianischen Oberschicht. Dieser trifft auf den Exzentriker Lord Henry Wotton, der ihm rät, seine Jugend und sein gutes Aussehen auszunutzen. Dorian eifert ihm nach und wird immer eingebildeter. Jahre vergehen, doch sie ziehen spurlos an seinem Aussehen vorbei. Stattdessen altert ein Gemälde, das sein Freund, der Maler Basil Hallward, von ihm gemalt hat, der Dorians Schönheit abgöttisch verehrt.

Für das Gericht steht fest: Das ist ein Fall von „Sodomie“, von Homosexualität. Basil Hallwards Gefühle, die Beschreibungen von Dorian Grays Schönheit – sie sollen auf Oscar Wildes eigene Sexualität schließen lassen. Doch der streitet das ab. Es gehe nur um Ästhetik in seinem Buch. Um reine Schönheit.
Für Wilde, der 1854 auf die Welt kommt, Sohn eines Ohrenarztes und einer Mutter, die einen Salon für junge Künstler unterhält, spielt Ästhetik eine besondere Rolle. Nach dem Studium der klassischen Literatur in Dublin und Oxford zieht er nach London, wo er durch sein extravagantes Auftreten in die High Society des viktorianischen Adels aufgenommen wird. Als Dandy, der Samtjacken und Kniestrümpfe trägt, seine Zeit in einer golden dekorierten Bibliothek vertreibt, Kunst- und Literatur kritisiert, steigt er zum Liebling der Salongesellschaft auf.
Sein Ideal lautet L’art pour L’art – Kunst um ihrer selbst willen. Schon zu Studienzeiten mahnt er den Herausgeber eines Magazins, „dass mein Sonett ganz in Großbuchstaben gedruckt werden muss. So wie es jetzt dasteht, sieht es schlecht aus und liest sich auch schlecht.“ Was immer er beschreibt in seinem Roman, es soll dem Leser einen sinnlichen Genuss darbieten: „Die Bettvorhänge waren aus Damast und hatten Laubgewinde und Girlanden auf einem Grund von Gold und Silber gestrickt, und vom Rand hingen Fransen in Perlenstrickereien ab.

Zur gleichen Zeit entstehen dutzende systemkritische Werke anderer Autoren, wie z.B. Germinal, in dem Émile Zola im moralistischen und humorlosen Ton die unmenschlichen Bedingungen der Arbeiterklasse in den Bergwerken anprangert. Ganz anders, so scheint es zunächst, denkt Oscar Wilde, der im Vorwort seines Romans erklärt: „Der Künstler ist der Schöpfer schöner Dinge. […] So etwas wie ein moralisches oder unmoralisches Buch gibt es nicht. Bücher sind gut geschrieben oder schlecht geschrieben, weiter nichts.
Nur wenn man genauer hinsieht, findet man eine subtile, scharfe und rhetorisch elegante Kritik an den Herrschenden. Ihn beschäftigen weniger die Lebensbedingungen der Arbeiterklasse, als die moralische Heuchelei der Bourgeoisie. „Um heutzutage in die beste Gesellschaft zu gelangen“, schreibt Wilde etwas polemisch, „muss man entweder die Leute traktieren, amüsieren oder schockieren – weiter nichts!“ Oder: „Mir sind Menschen lieber als Prinzipien, und Menschen ohne Prinzipien sind mir lieber als sonst etwas“.
Ganz bewusst erhebt Wilde die Lust über die Pflicht, die Versuchung über die Beherrschung, Dekadenz über Moral und Hedonismus über Altruismus. Trotzdem: 1891 erscheint sein Essay Der Sozialismus und die Seele des Menschen, sein flammendes Plädoyer für eine soziale Utopie. Er ist inspiriert von dem Anarchisten Peter Kropotkin. Aus der Metapher von der Diktatur des Proletariats entwickelt Wilde eine sozialistisch-libertäre Künstlerutopie: „Die Abschaffung des Privateigentums wird […] den wahren, schönen, gesunden Individualismus mit sich bringen. […] Wirklich zu leben ist das Kostbarste auf der Welt. Die meisten Menschen existieren bloß, sonst nichts.“

Oscar Wilde

Doch als Wilde einundvierzig Jahre alt ist, steht er plötzlich vor Gericht. Er hat die moralische Autorität der Herrschenden untergraben und außerdem für den Sozialismus geworben. Das Verfahren durchkreuzt seine größte literarische Schaffenszeit. Er wird verurteilt, der Richter bezeichnet ihn als „das Zentrum eines Kreises ausgedehnter Korruption der abscheulichsten Art“ und Wilde muss für zwei Jahre ins Zuchthaus. Der einstige „Hohepriester des Ästhetizismus“ verrichtet dort körperliche Schwerstarbeit unter unmenschlichen Bedingungen.
Nur noch ein einziges bedeutendes Werk entsteht: De Profundis (Aus der Tiefe) ist ein langer Brief an seinen Geliebten, Sir Alfred Douglas. Darin offenbart Wilde die Verbitterung, aber auch die Standhaftigkeit, mit der er seinem tragischen Schicksal begegnet: „Seine eigene Erfahrung bedauern, heißt seine eigene Entwicklung hemmen. Seine eigene Erfahrung leugnen, heißt seinem eigenen Leben eine Lüge auf die Lippen legen.

Drei Jahre nach seiner Freilassung stirbt Oscar Wilde. Zwischen seinem Tod 1900 und dem Aufstieg des Nationalsozialismus 1933 wird kein britischer Autor in Deutschland so häufig aufgelegt wie er.
Ein halbes Jahrhundert später bezeichnet ihn sein Enkelsohn Merlin Holland als „politischen Rebellen“, der „die Heuchelei und Doppelmoral jener sozialen, sexuellen und literarischen Werte, auf denen die viktorianische Gesellschaft ruhte“ herausgefordert und verhöhnt hat. Dann schreibt Holland jenen einprägsamen Satz, der Wilde zum Märtyrer homosexueller Kunst erhebt: „Über dem düsteren Grau der Ära vorindustrieller Macht und dem Streben nach einem Empire ließ er einen Regenbogen verbotener Farben erscheinen.

Gastbeitrag von Taylan Engin, 30.März’18 / Titeblild: © Mary Evans, Sipa

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