Literaturkritik: „Die eiserne Ferse“ oder Die Tendenz des Kapitals

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Wie ist dieser ungewöhnlich strukturierte, Hoffnung und Katastrophe ineinander schichtende Roman einzuordnen, der 1907 die Weltbühne der Literatur betrat und manche Geister verwirrte, andere schockierte und entgegen der Erwartung Londons im eigenen politischen Lager zunächst mit Widerwillen aufgenommen wurde, einige Jahrzehnte später aber begeisterte. Versuchen wir es: eine vorausschauende dystopische Aufzeichnung des Nahenden? Eine weitblickende utopische In-Aussicht-Stellung der künftigen „Menschenverbrüderung“? Reine Fiktion aus den Annalen der genialen Vorstellungskraft Jack Londons, die weder mit dem Nahenden noch mit dem Künftigen in Zusammenhang steht, oder erst recht damit in Zusammenhang steht? Zugegeben, das ist schwer zusagen. Denn der Roman ist die Zusammenfügung von Dystopie, Utopie und Weltlauf der Klassenkämpfe. Er liest sich wie ein kleines Organon der Weltgeschichte, das je nach Ausgabe mit knapp 250 Seiten den Strang der Weltbewegung ins grenzenlose Becken der Zukunft verfolgt, in die stürmische Gewässer unvermeidlicher Konflikte eintaucht, dann wieder zurückkommt, um im Sinne Rosa Luxemburgs zu erklären: Sozialismus oder Barbarei, d.h. dass der Kapitalismus fortwährend immer größeren Konflikten entgegen steuert, die sie gewaltsam und militärisch löst. Denn: Die Geschichte zeigt, dass die Herrschenden sich nicht freiwillig abwählen lassen. Die Kapitalisten besitzen die Regierung, die Armeen und die Miliz. Glauben Sie denn die Kapitalisten werden diese Institutionen nicht benutzen, um sich selbst an der Macht zu halten?

In einem Baumstumpf wird im 27. Jahrhundert eine Handschrift von Avis Everhard, der Frau des Sozialistenführers Ernest Everhard, eine menschliche Bombe und der Philosoph der Arbeiterklasse, gefunden. Das Manuskript von Avis Everhard umfasst die Jahre 1912 bis 1932 und beginnt mit der Beschreibung ihrer Beziehung zu Ernest Everhard, den sie in Diskussionsrunden bei ihrem Vater kennenlernt. Nach der Überwindung ihres konservativen Reflexes, den für gewöhnlich auch der fortschrittlich Denkende in der ersten Begegnung mit revolutionärem Gedankengut erfährt, um seine bisherigen Wertvorstellungen vor der revolutionären Umwertung reflexartig zu wahren, schließt sie sich Ernests Kampf um eine ausbeutungsfreie Gesellschaft an. Mit unerwarteten, teilweise auch schockierenden Erkenntnissen, die sie aus der praktischen Untersuchung konkreter, typologischer Gesellschaftsverhältnissen entdeckt, entsteht ihr Klassenbewusstsein. Dieses bildet sich nach und nach aus, sodass Avis zu einer vollständigen Revolutionären mit großer Verantwortung wird. Die unerbittlichen Klassenkämpfe, die sie zunächst beobachtet, nachdem sie selbst in sie eingreift, zertrümmern ihre Illusionen von der Unmöglichkeit systematischer Ausbeutung zu Gunsten des Profits und setzen an die Stelle dieser Ruinen fruchtbare, aktive, teilnehmende Lebenselemente. Sie sieht die Realität des Klassenkampfs in Abzügen in den Personen ihrer nächsten Umgebung abgebildet und lernt durch Ernest Everhard diese Abzüge in logischen, konsistenten, kausalen Gesamtzusammenhang zu bringen. Zwischenzeitlich entfesselt die eiserne Ferse, Symbol der Oligarchie und des organisierten Großkapitals, einen imperialen Krieg der Völker, der zeitweilig in einem Friedensvertrag der herrschenden Klassen aussetzt, den ein vereinigter Generalstreik der Arbeiterklassen in Nordamerika und jenseits des Atlantiks in Europa, vornehmlich in Deutschland, erzwingt. Infolgedessen wird der deutsche Kaiser abgesetzt und Deutschland ein sozialistischer Staat. Daraus zieht die eiserne Ferse ihre Lehren und richtet Arbeiteraristokratien ein, um die Macht der organisierten Klassensolidarität der Arbeiterinnen und Arbeiter zu durchbrechen. Diese Absicht gelingt, nicht zuletzt da Streikbrecher und Agents Provocateures die Pläne der führenden Arbeiterinnen und Arbeiter sabotieren, um Gründe zu konstruieren, die das Auftreten der Staatsgewalt und der Miliz sowie Schwarzer Hundertschaften gegen die Arbeitermacht zu rechtfertigen. Zwischenzeitlich wird Ernest Everhard als sozialistischer Führer ins Kapitol gewählt, wo mitten in seiner Rede ein von der eisernen Ferse initiierter Bombenanschlag am Plenum stattfindet, der keine Toten zur Folge hat, aber heimtückisch Ernest zugeschoben wird. Daraufhin kommt er für viele Jahre ins Gefängnis. Nun setzt sich das bereits zum Monopolkapital transformierte Großkapital, die eiserne Ferse, vollends durch und errichtet eine Oligarchie, die das Unterdrückungsniveau mehr und mehr anhebt. Die Bauern werden enteignet, die Mittelklassen durch das Finanz- und Bankkapital zerrissen und die Arbeiter entweder in den Arbeiteraristokratien privilegiert, damit sie brav den Profit des Monopolkapitals in der imperialistischen Phase stabilisieren, oder proletarisiert, d.h. in den Boden der Klassengesellschaft geschleudert, wo sie ihren nackten Existenzkampf für geringste Löhne ausfechten. Dies alles beschreibt Avis Everhard. Schließlich kommt sie in die ihr aufgezwungene Untergrundarbeit, die mit dem Siegeszug der eisernen Ferse zwangsläufig entsteht. Dabei durchlebt Avis eine Intensivierung der sozialen Revolution in den Jahren zwischen 1912 bis 1932, die in der brutalen Niederschlagung der Chicagoer Kommune gipfelt. In diesen Kämpfen verliert der von der Haft entflohene Ernest Everhard, der Jack Londons Gedanken ausspricht und seine Reden hält, sein Leben. Die eiserne Ferse, die den Totalitarismus des kapitalistischen Ausbeutungs- wie Repressionsprozess in sich vereinigt, d.h. den Faschismus als Verwertungsideal des Kapitals installiert, siegt – vorzeitig. Denn die 120 Anmerkungen des imaginären Lesers des 27. Jahrhunderts, die im Manuskript von Avis Everhard als Fußnoten quer durch den Roman verteilt sind, wissenschaftlichen Charakter in Gestalt einer historisch-kritischen Kommentierung haben und die Einzelschicksale der Figuren darstellen, lassen eine Menschenverbrüderung unter allen Völkern in Aussicht stellen, die endgültig Herrschaft der eisernen Ferse von der Bühne der Weltgeschichte stößt und die rote Fahne der neuen Weltgemeinschaft auf die Erde setzt.

 

Damit schafft es der Roman – vielleicht darin einmalig als fiktionale Geschichte – eine Dystopie in eine Utopie umzuschlagen, was auf Grundlage eines organischen Zu-Ende-Denkens der Faktizität vollzogen wird. Das macht den Roman heroisch.
Diese kurze, sich auf Inhaltswiedergabe beschränkende Rezension, die sicherlich nicht vollständig ist, gibt einen Ausblick über die nicht anders als prophetisch zu nennende Dimension des Romans, der 1907 eine große Beugung hinein ins 20. Jahrhundert machte und seiner inhaltlichen Ausrichtung nach heute nach wie vor Aktualität für sich beansprucht.

1938 schrieb Leo Trotzki, ein führender Revolutionär der russischen Oktoberrevolution neben Lenin, in Bezug auf die „eiserne Ferse“, die ihn beeindruckt hatte, an die Tochter von Jack London: „Man kann mit Sicherheit sagen, dass 1908 keiner der revolutionären Marxisten, auch nicht Lenin und Rosa Luxemburg, sich die unheilvolle Perspektive, die sich aus der Allianz von Finanzkapital und Arbeiteraristokratie ergab, in ihrer vollen Tragweite haben vorstellen können.“ Weiter schreibt er: „Wenn man den Roman liest, traut man seinen Augen nicht: Es ist exakt das Bild des Faschismus, seiner Ökonomie, seiner Regierungstechnik, seiner politischen Psychologie, welches hier die kraftvolle Intuition des revolutionären Künstlers entwarf.“
Dem ist nichts hinzuzufügen, außer vielleicht der Zweifel: ist der Roman nun tatsächlich dystopisch oder utopisch, oder irgendwo dazwischen oder gar nichts von alle dem, da realistisch, angesichts dessen, was uns die Erfahrung des letzten Jahrhunderts, die faschistische Transformation des Kapitalismus und die der Gegenwart mit dem globalisierten Groß- und Monopolkapital, das weltweit seine imperialen Umverteilungskriege durchführt, lehrt? Manchmal schafft es ein Roman sich aus der freien Welt der Fiktion in der konkreten Welt der Fakten nach und nach zu bewähren, indem der Fortlauf der Geschichte über ihn hinausgehend dessen Inhalt rückblickend sanktioniert.

Von Mesut Bayraktar, 12.Juli’17

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