Große Pause

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Es ist kein fairer Kampf.
Der Eine ist sehr viel stärker als der Andere. Er holt immer wieder und wieder mit seinen kräftigen Armen zum Schlag aus. Weiter und weiter drischt er auf den ihm Unterlegenen ein. Dieser leistet keine Gegenwehr. Stumm steht er da, lässt die Hiebe über sich ergehen. Blut spritzt und ebenfalls stumm besprenkelt es die umstehenden Menschenmassen. Gierig befriedigen sie ihre Sensationslust am grausamen Spektakel, welches sich vor ihren Augen bietet.
Auf einmal finde ich mich zurecht. Wir sind in der Pausenhalle meiner Schule. Eigentlich gehöre ich da schon lange nicht mehr hin. Verwirrte Augen aus dem Mosaikboden starren mich an. Die aufgeheizte Meute drängt mich weiter an den Rand. Ich stolpere rückwärts, kann nicht mehr entkommen. Eiskalt drückt sich die harte Marmorplatte der Fensterbank in meinen Rücken. Unerbittlich kommen mir Übeltäter und Geschlagener immer näher in ihrem ungleichen Kampf.
Plötzlich erhasche ich einen klareren Blick auf den Malträtierten. Er trägt eine weiße Maske, seine Augen dahinter sind ausdruckslos. Die Arme hängen schlapp an seinem Körper herab. Nicht einmal die Hände hat er zu Fäusten geballt. Er leistet keinerlei Widerstand gegen die rohe Gewalt. Obwohl das Blut aus seinem Gesicht schießt, bleibt seine Vermummung erhalten.
Entsetzt versuche ich zurückzuweichen. Doch es gibt kein Entrinnen aus dem furchtbaren Schauspiel, welches sich vor meinen Augen abspielt. Immer brutaler schlägt der Täter auf den Unterlegenen ein, immer lauter johlen die Zuschauer. Mir wird übel. Mein Gesicht und meine Arme werden dunkelrot vom Blut überfallen. Immer weiter werde ich in die Enge getrieben.
Doch da! Ein Fluchtweg tut sich auf. Ich stürze auf die Seite, kann entkommen. Beklommen von der kalten Brutalität und dem dröhnenden Jubel der Menschenmenge stolpere ich in die Schultoilette. Ich zittere, bin verstört, möchte mir das Blut vom Körper waschen. Aber alle Waschbecken sind bereits mit Mitschülern besetzt. Mit selbstgefälliger Miene und gewissenloser Ruhe reinigen sie sich. Gelassen färbt sich ihr Wasser hellrot, während sie geistlos in den Spiegel schauen.
Schließlich finde ich am äußersten Rand ein freies Becken. Ich reibe und reibe zitternd an meinen Armen und an meinem Gesicht. Doch das Blut vermischt sich nicht mit dem Wasser. In dicken Tropfen kullert es dunkelrot in das Becken. Ich beginne am ganzen Körper zu zucken. Verständnislos blicke ich um mich in die hellroten Becken neben mir. Ich begegne meinem Blick im Spiegel, unfähig mich wiederzuerkennen. Von Ruhe keine Spur.
Die Pausenglocke ertönt schrill, um die Schüler wieder in ihre Klassenzimmer zurückzulenken. Mechanisch gehorchen sie. Ich blicke ihnen hinterher. Verwundert schließe ich mich dennoch aus stillem Gehorsam an. Vom Strom getragen folgt ihnen mein Körper als willenlose Marionette in den Saal. Sie setzen sich, aufrecht und stramm, platzieren die reingewaschenen, weißen Hände auf ihren Tischen. Ich suche mir in einer der hintersten Reihen einen Platz. Die alltägliche Routine, der alle schweigend nachgehen, wirkt auf einmal so befremdlich. Als mein Blick nach unten wandert, stelle ich erschrocken fest, dass meine Hände immer noch dunkelrot sind, ebenso wie die meiner Mitschüler erneut verfärbt erscheinen. Als der Lehrer das Klassenzimmer betritt, lässt er seinen Blick erhaben durch das Zimmer schweifen. „Na meine lieben Schülerlein, hattet ihr auch eine so friedliche Nacht wie ich?“, wirft er mit selbstgerechter Miene in den erdrückenden Raum. Er schreitet autoritär zu seinem Pult und mustert seine Klasse noch einmal prüfend. Da er keine Veränderung feststellen kann, führt er wie gewohnt seinen Unterrichtsstoff fort.
Ich sitze da, regungslos, unfähig zu sprechen.

Prosa von Elisabeth Kurtzrock
Illustration von Lukas Schepers
17’Mai 2017


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