Literaturkritik: „Der Seewolf“ oder Die (Ohn-)Macht des Stärkeren

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Es ist ein von der Außenwelt abgeschnittener Ort, an dem weder Moral noch Tugend herrschen, an dem Willkür, rohe Gewalt sowie der Kampf ums nackte Überleben zum Alltag gehören und nur ein Gesetz Gültigkeit zu besitzen scheint – das Gesetz des Stärkeren. Nein, wir befinden uns weder in der grauen Steinzeit noch den dunklen Gefilden des Mittelalters, die Rede ist von einem kleinen Schoner, der Ende des 19. Jahrhunderts auf der Jagd nach Robben die schier unendlichen Weiten des Pazifiks durchquert: die „Ghost“. Sie ist es, die dem Autor als Schauplatz einer Erzählung dient, welche oberflächlich besehen nur eine spannende Abenteuergeschichte zu sein scheint, sich aber bei näherer Betrachtung als ein äußerst interessantes Gesellschaftsexperiment entpuppt.

Eine der Hauptfiguren in Jack Londons 1904 erschienenem Roman ist der reiche Gelegenheitsschriftsteller Humphrey van Weiden, der kurz nach Beginn der Handlung wider Willen als Schiffbrüchiger auf der „Ghost“ landet. Dieses eher zufällige Ereignis wird sich für ihn noch als folgenschwer herausstellen, befindet er sich doch fortan im Einflussbereich des zweiten Protagonisten, Kapitän Wolf Larsen. Aufgrund des Verlustes eines Crewmitglieds macht dieser v. Weyden, jeglichen Protest ignorierend, kurzerhand zum neuen Kajütenjungen und so kommt es, dass ein Mann, der sich in 35 Lebensjahren nie um seinen Lebensunterhalt sorgen musste, dessen weiche Hände bisher keinem einzigen Tag harter Arbeit ausgesetzt waren, von einem Moment auf den nächsten zu einem Leben als Seemann – als Proletarier – gezwungen wird.

Was den zweiten Hauptcharakter, Namensgeber des vorliegenden Buches, angeht, so muss sich der Leser schnell daran gewöhnen, dass London bzw. sein Erzähler v. Weyden nicht müde werden die geradezu gottähnliche Gestalt Wolf Larsens zu beschreiben. Seien es seine schier übernatürliche Körperkraft, sein perfekt geformter Körper, seine Intelligenz, sein unbeugsamer Wille – es ist offensichtlich, dass der Autor beim Erschaffen dieser Figur die Theorie des Nietzscheanischen „Übermenschen“ im Kopf hatte. Arg verkürzt besagt diese, dass es die Aufgabe der Menschheit ist, eine Art höherentwickelten Menschen hervorzubringen, der die Geschichte dann, ohne Rücksicht auf bestehende Moral- oder Idealwerte, entscheidend beeinflusst, wobei als Beispiel hierfür Cesare Borgia (Vorbild für Machiavellis „Fürsten“) oder Napoleon genannt werden. Nicht zuletzt spielt das Thema auch bei Dostojewskis weltberühmtem Roman „Schuld und Sühne“ eine zentrale Rolle, wobei dieser allerdings einen gänzlich anderen Ansatz als das vorliegende Buch verfolgt. Dostojewski geht es darum die Psychologie eines Menschen zu ergründen, der versucht ein Napoleon, sprich eine Art „Übermensch“ zu sein. London hingegen erschafft tatsächlich einen mit überdurchschnittlichen Fähigkeiten ausgestatteten Menschen, dem bestehende Moralvorstellungen nichts bedeuten und wirft diesbezüglich die Frage auf, was in der kapitalistischen Klassengesellschaft aus einem solchen wird. Wie formt der Kapitalismus diesen Menschen, bzw. inwiefern formt die Gesellschaft überhaupt den Menschen?

Den Hauptkonflikt im ersten Teil des Buches bildet die Gegenüberstellung von Idealismus und Materialismus; die Ideale v. Weydens treffen auf die harte Wirklichkeit an Bord der „Ghost“. Der wohlhabende Schiffbrüchige, der, nach seinem Beruf gefragt, antwortet er sei ein Gentleman, hat feste Vorstellungen von dem, was Gut und Böse, gerecht oder ungerecht ist. Für ihn gibt es etwas „Heiliges“, dass dem Leben einen besonderen Wert verleiht. Diese Anschauungen geraten jedoch angesichts der Realität an Bord des Schiffes mehr und mehr ins Wanken. Hier geht es einzig darum, die elende Plackerei so gut wie möglich zu überstehen; lebend und mit etwas Geld in der Tasche die Hölle wieder zu verlassen. Davon abgesehen, dass dieses Leben ohnehin kaum Platz für moralische Erwägungen lässt, sorgt der Kapitän schließlich noch dafür, ein solches Denken schon im Keim zu ersticken. Larsen ist der Überzeugung, dass sich das menschliche Leben in keiner Weise vom tierischen unterscheidet – der Stärkere setzt sich auf Kosten des Schwächeren durch: friss oder du wirst gefressen.

„Warum sollte ich sparsam sein mit diesem (menschlichen) Leben, dass so billig und wertlos ist? Es gibt mehr Matrosen als Schiffe auf den Meeren, mehr Arbeiter als Maschinen für sie.“

Hervorragend wird an diesem Zitat deutlich, dass Larsens Weltanschauung ihre Grundlage in der kapitalistischen Produktionsweise findet, welche die menschliche Arbeitskraft zur bloßen Ware macht, die zur Vermehrung von Reichtum ausgebeutet wird. Dieses Prinzip verinnerlichend, war es das Ziel des in Armut aufgewachsenen Larsen die Klasse der Ausgebeuteten zu verlassen und selber zu den Ausbeutern aufzusteigen, was ihm letztlich, wenngleich in kleinem Maßstab, gelungen ist. Vor diesem Hintergrund muss auch seine Verachtung gegenüber v. Weydens geerbtem Reichtum gesehen werden. Larsen bettet seine gesellschaftlichen Erfahrungen in die Theorien Darwins ein und ist demzufolge davon überzeugt, dass sich im kapitalistischen Konkurrenzkampf der Stärkere, d.h. der geistig sowie körperlich Überlegene auf Kosten der Schwachen durchsetzt und so zu materiellem Wohlstand gelangt. Gleich dem tierischen Hauptcharakter „Wolfsblut“ aus Londons gleichnamigen Roman zieht er aus seiner harten Kindheit die Lehre, Schwäche zu verachten und Stärke zu respektieren. Während jedoch „Wolfsblut“ in dem Menschen den Stärkeren erkennt, gibt es für Larsen niemanden, der über ihm steht. Oder etwa doch?

Van Weyden musste sich nie in dem tierischen „Kampf ums Dasein“ durchsetzen, sondern wurde wie in einer Blase lebend von diesem abgeschirmt, ja, er ist sich sogar noch nicht einmal bewusst darüber, dass sein angenehmes Leben auf der Ausbeutung anderer Menschen basiert. Und doch führt er Kraft seines Geldes ein angenehmeres, sichereres Leben als Larsen. Ein Widerspruch, der zwar den Seewolf kaum zum Überdenken seiner Theorie bringt, dafür aber seinen Urheber umso mehr geprägt hat.

Das Leben und die Weltanschauung des jungen Jack London stimmen, von einigen künstlerischen Abweichungen abgesehen, mit denen seines Charakters Wolf Larsen überein. In ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, musste London bereits im Alter von zehn Jahren zum Lebensunterhalt der Familie beitragen und trug jeden Tag stundenlang Zeitungen aus. Noch vor Erreichen der Volljährigkeit hat sich London schon als Austernräuber, Seefahrer und Fabrikarbeiter durchgeschlagen. Aufgrund seiner körperlichen Kräfte und eines wachen Geistes überstand er jedoch jede noch so schwere Aufgabe, was in ihm die Überzeugung seiner eigenen Überlegenheit nährte. Der junge London war durch und durch ein Individualist, der die Gesellschaft nicht hinterfragte, sondern überzeugt war von dem Prinzip, dass sich der Stärkere durchsetzt und harte Arbeit den Weg nach oben markiert. Erst während seiner Zeit als Tramp begann dem abenteuerlustigen Mann zu dämmern, dass Menschen wie er in aller Regel nicht oben landen, sondern in den Fabriken rund um den Globus kaputt geschunden werden für jene, die schon oben sind. Von dieser Erkenntnis und den damit verbundenen Eindrücken tief aufgewühlt, überwindet London schließlich seinen Individualismus und schließt sich dem Befreiungskampf der Arbeiterklasse an – er wurde Sozialist.

Aber was wird aus Larsen? Und van Weyden? Wird der „Übermensch“ erkennen, dass im Kapitalismus nicht die Starken oder Intelligenten die Macht innehaben, sondern das nackte, unpersönliche Geld; dass er alleine nur ein weiteres Bauernopfer in einem Spiel ist, bei dem die Sieger von Anfang an feststehen? Oder wird der „Gentleman“ erkennen, wie verlogen all seine schönen Werte und Ideale sind angesichts der Tatsache, dass seine Klasse ihren Reichtum mittels schärfster Ausbeutung generiert und damit die Verrohung in den Reihen der Ausgebeuteten erst verursacht?

Leider wendet sich London etwa ab der Mitte des Buches allmählich weg von seinem Gesellschaftsexperiment auf der „Ghost“ und legt stattdessen den Fokus auf eine recht klischeehafte Liebesgeschichte, die aus der Sicht des Autors wahrscheinlich zur Beantwortung der aufgeworfenen Fragen beitragen soll, letztlich der Handlung aber nur in vielerlei Hinsicht den Wind aus den bis dahin stets gespannten Segeln nimmt. Dies ist zweifellos schade, vermag aber die Stärken des ersten Teils zum Glück nur bedingt in den Schatten zu stellen. In diesem hat Jack London es geschafft anhand einer recht simplen, authentischen Abenteuergeschichte Prozesse des gesellschaftlichen Lebens und der Bewusstseinsbildung aufzuzeigen, welche auch heute noch das Potential haben, den Leser zum Hinterfragen und Reflektieren (vermeintlich) gefestigter Anschauungen anzuregen.

 Von Daniel Polzin
27. Dezember’16

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