Die Legende von den 62 Göttern

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Die Menschheit hat 62 Götter.
Alle sind sie mächtig und furchterregend.
Jeder Einzelne verfügt über ein riesiges Heer.
Ihr Olymp ist die wundersame Erde,
die Erdkugel gehört flächenmäßig ihnen
und alles, was auf ihr atmet, steht unter ihrer Anwartschaft.
Ihre Kojen sind die weiten, weißen Wolken – der Himmel.
Nach den Sternen im dunklen Raum greifen sie schon.

Täglich findet eine Messe statt,
wo die 62 Götter fressen sich satt
und die müden Frommen sich sammeln und flehen,
womit die Götter ihnen Verstand und Wille verdrehen.
Eilt die Menschheit mal nicht geschwind herbei
und stellt sich eins und eins in geordneter Reih‘,
werden die 62 Götter ganz brutal,
und zerschlagen alle Unwilligen mit ihrm Riesenarsenal.
                Und die Welt wird kurzweilig erlahmen
                und alle Hungrigen beginnen zu klagen
                und in Blutlachen klirrt der Opfer Geschrei‘.

Die 62 Götter besitzen viele Gebetspaläste
Synagogen! Kirchen! Moscheen! errichtet auf Moräste.
Die Götter brüllen zur Sühne, zur Predigt, zum Gebet!
Mit dem Abschluss seufzen die Frommen: der Magen tut weh!
Die Zusammengeströmten verteilen sich dann auf die Kontinente
auf Götterbefehl, um den Göttern zu errichten Monumente,
und die 62 Götter ergötzen sich schmausend am Selbstbild,
während die Brockenträger müd‘ sind und totgedrillt.
                Und die Welt wird kurzweilig erlahmen
                und alle Hungrigen hören auf Brocken zu tragen
                und mit leerem Magen tönt der Schmerzensschrei.

Die 62 Götter sind Herr über alle Industrien
über Fabriken! Maschinen! Ölraffinerien!
Die Menschheit kann nicht vor ihnen fliehen.
Tödlich ist, haben sie gelernt, zu schwelgen in Utopien.
Die 62 Götter befehlen immerfort: Leckt Metall!
Und die Menschheit klagt pausenlos, aber leckt’s Metall.
Sie fürchtet sich und denkt, sie kann nichts tun
Und die Götter lachen und lassen niemanden ruhn.
                Und die Welt wird kurzweilig erlahmen
                und alle Hungrigen schlagen tiefer ins Braune den Spaten
                und verwandelt in Metall gedenken sie der nahenden Zeit.

Nach hundert und abermals hundert Völkerkriegen,
womit die Götter sich in noch größerem Reichtum wiegen
und die Namenlosen in noch elenderem Zustand vergessen verfaulen
und die Kinder zu Millionen Sand schluckend nach Trinkwasser jaulen,
da, da wird endlich ausgerufen der racheerfüllte Hungeraufstand
und weit über 7,4 Milliarden geraten gegen die 62 Götter außer Rand und Band.
Sie verweigern sich zu stellen auf den Weltmärkten zum Kauf
und schlagen ihr Blut den Göttern ab, das sie gesoffen zuhauf.
                Und die Welt wird gewaltsam erlahmen
                und alle Hungrigen rüsten sich mit Handgranaten
                und stürmen los auf die Götter ohne Gnad‘ und Verzeih.

Da brüllen die 62 nach Neuverhandlungen laut auf.
Die ganze Menschheit steht denkend stumm auf.
Sie sagen, wir bleiben eure Götter und ihr unsere Diener,
einer muss ja führen, aber für euren Mut belohnen wir euch spürbar.
Die Götter haben uns und die Vorläufigen, trotzen die Milliarden, betrogen,
sie nahmen uns, was wir erarbeitet, und schlugen uns mit rostigen Sporen.
Wir haben die Götter geschaffen,
darum sind wir dazu berufen, die Götter aufm Schafott auch hinzuraffen.
                Und die Welt hörte auf zu erlahmen
                und niemand musste noch vor Hunger klagen
                und die gemeinsam Schaffenden erklärten die Menschheit frei.

Dann hatten die Milliarden ihren letzten Gott mit Metall gestürzt,
die Erdkugel an sich gerissen,
die himmlischen Kojen auf die wunderbare Erde gesetzt
und Häuser für Milliarden gebaut,
das Leuchten im dunklen Raum beobachtet,
mit dem Öl aus den Raffinerien
die leeren Kirchen verbrannt,
die leeren Moscheen verbrannt,
die leeren Synagogen verbrannt
und
die Fabriken und die Maschinen bestürmt und besetzt.
Und die letzten Worte des letzten Gottes waren lachend wie Caligula:
Vor mir herrschten die 61 Reichsten über das Reich der Notwendigkeit
– nach mir wird, auf unseren Trümmern, das Reich der Freiheit der Milliarden sein.*
_____________________
*Nachvermerk: 2016 hatten Forscher festgestellt, dass 62 Einzelpersonen so viel Reichtum angesammelt haben, wie die halbe Menschheit hat, nominell wie 3,6 Milliarden Menschen. Fünf Jahre zuvor waren es 388 Einzelpersonen, und davor wiederum einige mehr. Diese Entwicklung fand und findet vor dem Hintergrund statt, dass gleichzeitig der Weltreichtum wächst und die Weltbevölkerung anschwillt.

Von Mesut Bayraktar, 20.Dez’16 / Illustration Lukas Schepers

62-gotter


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