Literaturkritik: „Zeit zu leben und Zeit zu sterben“ oder Die Illusion kleinbürgerlichen Glücks

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Es ist ein alltäglicher Vorgang; Routine. Vier Menschen stehen im grauweißen Schnee. Eine Frau im roten Rock, jung und kräftig, links neben ihr ein alter Mann mit durchdringend blauen Augen, in denen sich der Himmel spiegelt, rechts von ihr zwei jüngere Männer, von welchen einer soeben hastig seine Stiefel auszieht. Es sind Russen. Sie stehen vor vier großen, schwarzen Gräben, die sie tags zuvor mühsam ausgehoben haben. In wenigen Augenblicken werden sie selbst darin liegen, tot. Einer der Soldaten, die den Abzug betätigen, ist Ernst Graeber, 23 Jahre alt und Hauptfigur der vorliegenden Geschichte.

Die Handlung des etwa zehn Jahre nach der Befreiung vom Faschismus erschienen Romans setzt in einer aus psychologischer Sicht sehr interessanten Phase des Krieges ein. Mit der Niederlage in der Schlacht vor Moskau, spätestens aber seit Stalingrad, war der Krieg für Nazideutschland nicht mehr zu gewinnen, doch die allgegenwärtige Propaganda sorgte dafür, dass diese Erkenntnis sich nur langsam ihren Weg in die Köpfe der Soldaten bahnte. Im Frühjahr des Jahres 1944 hatten es die meisten jedoch begriffen – gegen die ständigen Niederlagen, den kaum noch unterbrochenen Rückzug und die hohen Verluste kamen auch Hitlers Märchen von Wunderwaffen, angeblicher Erschöpfung der Roten Armee oder der strategischen Verkürzung der Frontlinie nicht mehr an. So war auch für Graeber die Welt noch in Ordnung, solange Schlachten gewonnen wurden. Doch im Angesicht der Niederlage setzt das Denken wieder ein und mit ihm die Zweifel: an den Methoden des Krieges, am Ziel des Krieges – am Sinn des Krieges.

In „Zeit zu leben und Zeit zu sterben“ stellt Erich Maria Remarque erneut den Krieg und all seine Übel schonungslos an den Pranger, aber wie der Titel schon verrät, ist sein Werkzeug diesmal nicht nur die Darstellung jener Welt des Blutvergießens, der ständigen Angst und menschlichen Verrohung. Nein, vielmehr versucht der Autor auch aufzuzeigen, was für eine Welt der Krieg verhindert, wie das Leben ohne ihn aussehen könnte. Neben die Sinnlosigkeit des Sterbens versucht Remarque bewusst kontrastreich die Sinnhaftigkeit des Lebens zu setzen. Das Bemerkenswerte hierbei ist, dass der Autor damit im Grunde zwei seiner vergangenen Werke zu verbinden sucht: In dem zeitlosen Klassiker „Im Westen nichts Neues“ (1929) liegt der Fokus fast vollständig auf dem Krieg, auch abseits der Front lässt er den Hauptcharakter nicht mehr los. Der gut 17 Jahre später erschiene Roman „Arc de Triomphe“ wiederum spielt, wenn auch am Vorabend des Zweiten Weltkrieges, in Friedenszeiten und thematisiert die Schwierigkeit „in einem zusammenbrechenden Jahrhundert“ ein bürgerliches Leben aufzubauen.

Die Verknüpfung dieser beiden Themen gelingt inhaltlich dadurch, dass Graeber recht früh im Laufe der Handlung ein mehrwöchiger Heimaturlaub gewährt wird und er somit, den Leser im Schlepptau, die Front verlassen kann. Wird er ob seiner gänzlich falschen Vorstellungen vom Zustand seiner Heimat zunächst schwer enttäuscht, markiert die Begegnung mit einer jungen Frau schließlich den Beginn jener Phase, auf welche Remarque wohl mit der titelgebenden „Zeit zu leben“ anspielt. Besuche in teuren Restaurants, abendliche Spaziergänge oder mit Champagner versüßte Nachtgespräche – unter fast schon grotesk widrigen Umständen versuchen die beiden, sich eine Art kleinbürgerliches Glück in Miniaturform aufzubauen, ein kleines Floß der Ruhe inmitten der schäumenden Wogen des alles durchdringenden Krieges.

Remarque hat, basierend auf seinen Erfahrungen im Ersten Weltkrieg, der folgenden Inflation, der Weltwirtschaftskrise, dem Aufstieg des Faschismus und all den anderen bitteren Symptomen eines kranken Systems das Führen eines idyllischen, kleinbürgerlichen Lebens in „Arc de Triomphe“ als den Mythos, der er ist, als bloße Illusion entlarvt. Inmitten eines solchen Systems kann es kein wahrhaftes und glückliches Leben geben; das ist der einzige Schluss, den der Leser aus diesem Werk ziehen konnte. Was fehlte, war einzig die Frage nach dem „Warum“ – warum ist die Gesellschaft so, wie sie ist, nach welchen Gesetzen entwickelt sie sich, was hält sie im Kern zusammen. Doch nicht nur verzichtet Remarque darauf, diesen Fragen im vorliegenden Werk auf den Grund zu gehen, nein, auch revidiert er offensichtlich seine Anschauungen über das bürgerliche Leben. Es ist, als würde der Autor einen Schleier, den ihm die Bilder sich immer wiederholenden Elends und Verkommenheit auf dieser Welt einst vom Kopf zu rissen schienen, nun wieder aufsetzen.

Unsere Gesellschaft basiert auf Gesetzen und Kräften, die erkennbar sind, die sowohl erklären, warum die Welt heute ist, wie sie ist als auch einen Weg aufzeigen, wie sie verändert werden kann. Doch weil Remarque nicht imstande war, dies zu erkennen, flüchtet er statt nach vorn, d.h. hin zu einer neuen, sozialistischen Gesellschaft, zurück unter den Schleier – zurück in die Illusion eines friedlichen, kleinbürgerlichen Lebens, in dem die Gesellschaft nichts als eine bloße Kulisse für das individuelle „Glück“ darstellt.

„Alles was ich im Leben einmal möchte, ist denken, was ich will, sagen, was ich will und tun, was ich will“, wird Graeber gegen Ende hin resümieren und daran anknüpfend den „Messiassen von rechts und links“ vorwerfen, ein solches Leben zu verhindern. Ohne die Art bzw. die Fundamente der Gesellschaft zu hinterfragen, dabei Faschismus und Kommunismus in einen Topf werfend, wünscht sich Graeber im Grunde nur, dass die Welt doch friedlich sein möge – unter diesen Bedingungen ein Wunsch, der, um ihm mit den Worten des Hauptcharakters aus „Arc de Triomphe“ zu antworten, rührend, heroisch und lächerlich in einem ist – und nutzlos.

Doch auch wenn Remarque mit „Zeit zu leben und Zeit zu sterben“ leider die fruchtbaren Gedankengänge, welche sich in vorherigen Werken anzudeuten schienen, nicht fortzusetzen vermag und statt Antworten zu finden, lieber die Fragen ignoriert, ist der Roman dennoch lesenswert. Verdanken tut er dies der Eigenschaft des Autors als brillanter, lebensnaher Erzähler, der mittels unzähliger, hervorragend gezeichneter Nebencharaktere verdeutlicht, wie Krieg, Hunger oder Angst das Denken der Menschen beeinflussen; an was sie sich festhalten, wenn gesellschaftliche Entwicklungen sie aus ihrer gewohnten Bahn geworfen haben. Es ist die detailgetreue Darstellung einer Zeit, deren Verständnis für die Analyse heutiger Entwicklungen nicht hoch genug eingeschätzt werden kann.

Text von Daniel Polzin,
20. Oktober’16

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