Literaturkritik: „Die Mutter“ oder Lektionen zum Klassenkampf

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„Manchmal redet und redet ein Mensch, und man versteht ihn nicht, bis er ein ganz einfaches Wort findet, das plötzlich alles klarmacht!“ Dieses solide Werk von Maxim Gorki ist eben ein solcher Roman des einfachen Wortes.

Es handelt von der sukzessiven Bildung des Klassenbewusstseins von Pawel Wlassows Mutter – Pelagea Wlassow. In einer proletarischen Vorstadt, die tagein tagaus den Qualm einer Fabrik einatmet und verdaut, findet sich Pawel Wlassow mit seinem und dem Schicksal der Arbeiterklasse, so wie ihn die Herrschenden fixiert haben, nicht ab. Er findet sich nicht damit ab, dass aus der Arbeiterklasse, die in der Monotonie eines bedeutungslosen Alltags gefangen ist, maschinenmäßig Profit abgepresst wird, aber sie selbst am Existenzminimum vor sich hin verelendet und seelisch-moralisch verwahrlost. Pawel Wlassow – Kind eines verstorbenen Trinkers und Raufboldes und einer analphabetischen, von Schlägen gezeichneten Mutter, die beide als stereotype Repräsentanten ganzer Arbeiterscharen fungieren – ist unzufrieden und eigenartig anders. Er beschafft sich – nach seinem inneren Aufschrei nach dem Warum, welches jede große, kühne Menschennatur kennt – sogenannte „verbotene Bücher“, um die Wahrheit, den Grund, die Ursachen der Klassenmisere der Arbeiter zu erfahren. Schritt für Schritt – wo er zu Beginn noch argwöhnisch beäugt wird – kommt er den kapitalistischen Wahrheiten näher, um schließlich – in die Praxis übergehend – eine revolutionäre sozialistische Gruppe um sich herum zu bilden. Der traditionelle 1. Mai, der bittere tägliche Arbeitskampf, der Internationalismus der Lohnabhängigen, die proletarische Solidarität, der unmenschliche Preis der Entscheidung ein Revolutionär zu sein, die zwangsweise Illegalität, die Liebe zur geschichtlichen Gerechtigkeit und vieles mehr, kurz: der soziale Klassenkampf entfaltet sich hier Seite für Seite in einer so simplen und einfachen, aber auch kahlen wie zuversichtlichen Weise, dass man zuweilen den Roman nicht einmal als besonders literarisch, vielmehr bloß als protokollarischen Realismus empfindet.

Aber warum heißt das Buch Die Mutter? Die ersten Treffen, in denen vor allem freimütig und willensbewusst diskutiert wird, finden im Hause der Wlassows statt; d.h. in Anwesenheit der Mutter, die von Anfang an dabei ist. Sie beobachtet ihren Sohn, seinen konsequenten Entschluss, lernt seine Genossen kennen und lieben, empfindet die zärtliche Umgangsform als völlig neu und wohltuend, fürchtet allmählich um Pawel und seine Freunde und wird schließlich selbst von der großen sozialen Idee der Arbeiterklasse – keinen Hunger, keine Ausbeutung, keine Unterdrückung und keinen Völkerkampf zuzulassen – mitgerissen. Sie selbst beginnt mehr und mehr integraler Bestandteil der Gruppe zu werden. Der wesentliche Punkt ist schließlich, dass sie ihre Angst, die ihren Geist und ihre Seele als von außen injizierte Unterdrückungsform beherrscht, verliert. Sie emanzipiert sich. In dem Gang der Geschichte reflektiert sich endlich der Gang der proletarischen Klassenbildung um die Situation ihrer selbst und ihrer Leidensgenossen. Sie erkennt, dass die Menschen schlecht zueinander sind, weil man sie hungern lässt und da man sie hungern lässt, müssen sie untereinander kämpfen – eine schlichte, profane Wahrheit. Sie erfasst die soziale Idee allerdings nicht von der theoretischen, sondern von der anderen, der praktischen Seite her, sodass sie den jungen Menschen um Pawel Wlassow und auch den älteren Menschen um ihre Generation herum zur einfühlsamen, zarten und unbeugsamen „Mutter“ wird. Wie die Revolutionärin und Vorkämpferin Rosa Luxemburg einst sagte, dass die revolutionärste  Tat die ist, zu sagen was ist, spricht sie – der inneren Angst entledigt – die Seelenleiden ihrer Klasse wie beispielsweise folgendermaßen aus: „Wir Menschen des gemeinen Lebens fühlen alles, aber es wird uns schwer, uns auszudrücken; wir schämen uns, dass wir etwas verstehen, es aber nicht aussprechen können. Und oft sind wir so recht auf unsere Gedanken böse. Das Leben schlägt und stößt uns von allen Seiten, man möchte gern ausruhen, aber die Gedanken lassen es nicht dazu kommen.“

Der Prozess ihrer Bewusstseinserhebung – von der ungebildeten, ihrer seelischen Willkür und den Schlägen des Lebens ausgesetzten Hausmutter hin zur selbstbewussten, sich selbst gewonnen, kühnen und zarten Klassenmutter – mündet schließlich im warmen wie ernsten, profanen wie stärkenden Tenor, den Pawel Wlassow bereits früh ausspricht: „Wir Arbeiter müssen lernen. Wir müssen herausbekommen, müssen begreifen, warum unser Leben so schwer ist … Die Menschen sind schlecht, ja – Seitdem ich aber weiß, dass es Wahrheit auf der Welt gibt, sind die Menschen besser geworden.“ Denn man kann seine Leiden – welcher Art sie auch sein mögen – nur bekämpfen, wenn man hell und klar zu sehen beginnt, was die Ursachen und Kausalitäten sind, die die selbigen Leiden bewirken. Erst muss der Mensch sich selbst gewinnen, dann kann er wirklichen Einfluss auf seine Umwelt ausüben. Die Mutter ist ein literarisches Exempel, das heute noch Gültigkeit hat.

Der Roman, Schlüsselwerk des sozialistischen Realismus, entstand in den Jahren um 1906/07. Gorki – sein bürgerlicher Name war Alexei Maximowitsch Pesckow; Gorki, sein Pseudonym, bedeutet „Der Bittere“ – verarbeitet hier, offen mit propagandistischer Absicht, fast schon unliterarisch seine Erfahrungen aus der ersten russischen Revolution ab 1905. Dabei geht der Roman unbeirrt nach vorne; kein Wehleiden, kein Kummer, keine Schwärmerei, kein plakatives Pathos; nur eiserner, unkorrumpierbarer Wille und konsequenteste Einsicht, die Arbeiterklasse zu emanzipieren und eine solidarische, zart empfindende, klassenlose Gemeinschaft freier und assoziierter Individuen aufzubauen.

Bertolt Brecht, der umfänglich begeistert vom Schaffen seines Zeitgenossen Gorki war, fand Die Mutter essentiell, da Gorki – selbst in ärmlichsten Verhältnissen aufgewachsen – darin beweise, dass er wie kein anderer mit der Einfachheit des Wortes die Tiefe der geschichtlichen Wahrheiten zu schildern wisse, die den Kausalkomplex der kapitalistischen Gesellschaft freilegen. Mit dieser Auszeichnung unter zeitgenössischen Schriftstellern – eines Meisters zu einem Meister – entschloss sich Bertolt Brecht sodann den Roman von Gorki dramatisch in ein gleichnamiges, dennoch eigenständiges Stück zu übersetzen. Somit denken wir an dieser Stelle, dass diese Rezension ihren abgerundeten Abschluss am trefflichsten mit dem Lied vom Ausweg aus Bertolt Brechts Die Mutter findet, womit wir den Leser nun verlassen:

Wenn du keine Suppe hast
Wie willst du dich da wehren?
Da musst du den ganzen Staat
Von unten nach oben umkehren
Bis du deine Suppe hast.
Dann bist du dein eigener Gast.

Wenn für dich keine Arbeit zu finden ist
Da musst du dich doch wehren!
Da musst du den ganzen Staat
Von unten nach oben umkehren
Bis du dein eigener Arbeitgeber bist.
Worauf für dich Arbeit vorhanden ist.

Wenn man über eure Schwäche lacht
Dürft ihr keine Zeit verlieren.
Da müsst ihr euch kümmern drum
Dass alle, die schwach sind, marschieren.
Dann seid ihr eine große Macht.
Worauf keiner mehr lacht.

Von Mesut Bayraktar, 14.Okt’16 / Titelbild illustriert von Lukas Schepers

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