Ein Dienstag in Paris – Teil I/III

,

In unregelmäßigen Intervallen schlagen die Regentropfen gegen die Windschutzscheibe des schwarzen Autos. Das dadurch verursachte Rauschen übertönt jedes Mal die Stimme des Nachrichtensprechers im Radio, weshalb die ein oder andere Meldung unvollständig bleibt. Frankreichs Nationaltrainer muss auf irgendeinen Spieler verzichten, das Parlament tagt zu einer wichtigen Sache und es gibt Verkehrsbehinderungen wegen einer Großdemonstration. Albert interessiert das nicht weiter, er hat die Nachrichten bereits vor einer halben Stunde gehört und wartet nur, bis endlich wieder Musik gespielt wird. Normalerweise raucht er seine Zigarette draußen stehend an sein Taxi gelehnt, doch diesen Morgen hat das Wetter ihm die Lust an seinem lieb gewonnenen Ritual verdorben und Albert muss sich mit einem halb geöffneten Fenster als einzigem Zugang zu frischer Luft zufriedengeben. Auch wenn das Duftspray stets im Handschuhfach liegt, versucht er, den größten Teil des grauen Qualmes so schnell wie möglich nach draußen zu befördern, was ihm das Rauchen eher wie eine Pflicht als einen Genuss erscheinen lässt. Aber die Vorstellung, den unangenehm künstlichen Blumengeruch des Sprays die nächsten Stunden ertragen zu müssen, behagt ihm noch weniger. Schließlich nimmt er einen letzten, wie immer besonders tiefen Zug von seiner Zigarette und schnipst den Filter anschließend aus dem Fenster, den wenige Meter entfernten Mülleimer nur knapp verfehlend. Das erste Lied nach den gefühlt endlosen Nachrichten und dem wenig überraschenden Wetterbericht, ist ein französischer Popsong aus den 80ern, den Albert in seiner Jugendzeit gern gehört hat. Eine Funkdurchsage, nach der er ins 6. Arrondissement fahren soll, unterbricht die Gedanken an seine „wilden Jahre“ und holt ihn abrupt in die Realität zurück. Er trinkt noch schnell einen großen Schluck Kaffee, betrachtet skeptischen Blickes den grauweißen Himmel durch die Windschutzscheibe und antwortet dann in knappen Worten der Zentrale. Sein Arbeitstag hat begonnen.
In einer Querstraße unweit des Jardin du Luxembourg warten bereits seine ersten Kunden. „Fußballfans – was sonst?“, schießt es Albert beim Anblick der drei jungen Männer unwillkürlich durch den Kopf. Zwar ist das Trinkgeld in der Regel angemessen, aber die aufdringliche, laute Art der meisten Fußballtouristen zerrt nicht selten an seinen Nerven. Zudem sind aufgrund der Sprachbarriere kaum Unterhaltungen möglich, welche sonst eine willkommene Abwechslung in Alberts Arbeitsalltag darstellen. Nachdem sich die Männer entscheiden konnten, wer vorne sitzt, sagen sie ihm in englischem Akzent, dass sie zum Arc de Triomphe möchten. Vermutlich sind sie nicht lange in der Stadt und wollen sich tagsüber die Sehenswürdigkeiten anschauen. Immerhin besser, als die, die nur zum Saufen kommen, denkt sich Albert. Als sie gerade in stockendem Verkehr die Rue de l’Université entlangfahren, fragt ihn der neben ihm sitzende Fahrgast, ein recht grobschlächtig aussehender Typ mit Adlernase, auf Englisch, ob er denn die EM verfolge. Allein weil sein Beruf es erfordert, versteht Albert die Sprache ganz gut, aber wie die meisten seiner Landsleute, spricht er sie weder sonderlich gern noch gut. Und nun wird er seit Tagen von jedem zweiten Fahrgast gefragt, ob er denn für Frankreich sei, das Spiel gesehen habe oder lieber die WM schaue. Letzteres rührt wahrscheinlich daher, dass die Leute aufgrund seiner schwarzen Hautfarbe denken, Albert wäre Fan irgendeines afrikanischen Teams. Wie dem auch sei, stets antwortet er in knappen Worten, dass Fußball nicht sein Sport wäre. Einerseits stimmt dies tatsächlich – hochgewachsen, wie er war, wurde Basketball schnell zum Spiel seiner Wahl – andererseits würde eine andere Antwort nur die Wahrscheinlichkeit auf weitere Fragen unnötig erhöhen. Dieses Mal funktioniert aber auch das nicht. Sich mit seinem Kopf bis zwischen die beiden vorderen Sitze vorbeugend, fragt ihn nun ein rothaariger Mitzwanziger, ob er denn nicht für Frankreich sei. „Soll das ein Test sein?“, war Alberts erster Gedanke. Doch schnell ärgerte er sich fast ein wenig über sein Misstrauen, es war schließlich nur eine harmlose Frage. Natürlich sei er für Frankreich, gucke aber die Spiele nicht, ist letztlich seine mehr oder weniger wahrheitsgemäße Antwort. Wenn er tatsächlich mal mit Freunden ein Spiel schaut, freut sich Albert zwar mit allen zusammen über Frankreichs Tore, doch wirklichem Patriotismus entspringt dies nicht. Wie könnte er auch patriotisch sein, nach allem, was ihm seine Eltern über die Erlebnisse seiner Vorfahren unter französischer Kolonialherrschaft erzählt haben? Einem anderen Land fühlte sich Albert aber auch nie zugehörig. Er ist in Frankreich groß geworden, hat hier gute wie schlechte Erfahrungen gemacht und letztlich doch stets ein relativ gesichertes Leben führen können. Es erscheint ihm merkwürdig, dass die Nationalität für immer mehr Menschen eine so große Rolle zu spielen scheint. „Keine gute Entwicklung“, resümiert Albert, während er im Vorbeifahren bemerkt, dass sein Lieblingskiosk heute scheinbar geschlossen ist.
Den Rest der Fahrt waren die drei Fußballfans wieder in eigene Gespräche vertieft und Albert konnte bis zum Ziel in Ruhe seinen Gedanken nachhängen. Kurz nachdem er seine Fahrgäste rausgelassen hat, klingelt Alberts Handy.
„Hey Louise, was gibt’s?“, begrüßt er seine Kollegin.
„Albert, wo bist du?“
„Im 8. Arrondissement.“
„Kommst du nachher zum Place d’Italie?“
Er hatte diese Frage erwartet. Louise war Gewerkschaftssekretärin in dem Fahrunternehmen, für das sie beide ihre Runden drehten und hatte in der Zentrale schon vor Wochen ein großes Plakat als unübersehbaren Hinweis auf die heutige Demonstration angebracht. Der Chef hat es mehrmals abgenommen, aber wohl nicht mit Louises Hartnäckigkeit gerechnet, die es immer wieder von neuem aufhing.
„Du weißt, dass ich das Geld brauche, Louise.“
„Ich weiß, Albert, aber der heutige Tag ist echt wichtig. Es geht nicht nur um uns.“
Eigentlich hätte er ihr gerne gesagt, dass er gleich da ist. Ihn beeindruckte das Engagement seiner jungen Kollegin, die immer so unerschrocken über „die da oben“ herzog und die Arbeit der Gewerkschaft hielt Albert auch für wichtig. Er hat schon oft überlegt beizutreten, aber wollte am Ende doch lieber unauffällig bleiben. Der Gedanke daran ärgert ihn, wirkt es doch so, als fehle ihm einfach der Mut.
„Tut mir leid. Vielleicht will ja ein Fahrgast hin, dann steige ich kurz aus und schwenke die rote Fahne.“
Albert muss unvermittelt an die Fußballfans denken und ein laues Gefühl der Trübe steigt in ihm hoch.
„Na gut; melde dich, wenn du es dir anders überlegt hast. Adieu, Albert.“
„Adieu.“
Kaum hat er aufgelegt, wird ihm bereits sein nächster Auftrag durchgegeben. Es ist nur einige Hundert Meter entfernt, dennoch wird es ein paar Minuten dauern, bis er da ist. In der Innenstadt ist der Verkehr immer stark, aber nirgends war es so schlimm wie im 8. Arrondissement. Dabei war es um diese Uhrzeit sogar noch besser als gegen Abend hin. Albert denkt an den Rest seines Arbeitstages. Mit einer hastigen Bewegung presst er plötzlich seine Handfläche gegen die Hupe, was sein Vordermann, der legitim die Spur wechselte, unverzüglich erwidert. Wenig später biegt Albert in eine kleine Seitengasse und erblickt auch schon zwei am Straßenrand stehende Geschäftsleute, vermutlich seine nächsten Fahrgäste. Beide steigen hinten ein und setzen ihr draußen begonnenes Gespräch praktisch nahtlos fort, nur unterbrochen durch eine kurze Begrüßung sowie die Nennung ihres gewünschten Zielortes. „Eine Schande für Paris, was sage ich, für ganz Frankreich!“, war der erste Satz, den Albert bewusst vom Gespräch der beiden Franzosen aufschnappt. „Seit Wochen nehmen sie die ganze Bevölkerung in Geiselhaft, schwächen unsere Wirtschaft und was macht die Regierung? – Lässt sie mit ihren roten Fahnen durch Paris marschieren!“. Albert muss sofort an seinen letzten Satz zu Louise denken. Es hat inzwischen aufgehört zu regnen und er stellt den Scheibenwischer aus.
„Dabei ist die Reform noch viel zu harmlos. Das sind doch alles nur punktuelle Lockerungen, anstatt eines richtigen Bruches mit dem überkommenen System“, ist die Antwort des anderen Fahrgastes, dessen unangenehm starkes Parfüm Albert auch quer durchs Taxi noch riechen konnte. „Hätten es nicht Fußballfans sein können“, murmelt er grimmig vor sich hin. „Hollande soll einfach mal einen Blick nach Deutschland werfen. Haben die einen so starren Kündigungsschutz? Haben die Unternehmen dort auch kaum Möglichkeiten flexibel auf die Wirtschaftslage zu reagieren? Haben sie einen Staat, der uns Unternehmer jeglicher Freiheiten beraubt? – Nein! Und genau deshalb sind sie so erfolgreich, sage ich dir.“ Albert versucht ruhig zu bleiben, auch wenn er den beiden arroganten Krawattenträgern nur zu gerne die Meinung gegeigt hätte. Louise hätte das sicher gemacht. Aber er war nicht wie Louise. „Das eigentliche Problem besteht doch darin, dass Hollande diese Verbrecher von der Gewerkschaft einfach machen lässt. Die wiegelt mit ihren Lügengeschichten noch die ganze Bevölkerung auf und irgendwann hört keiner mehr auf rationale Argumente in diesem Land!“ Albert schaltet das Radio etwas lauter, wird aber von dem jüngeren der beiden Fahrgäste kurz darauf gebeten, es wieder runterzudrehen, da man sich sonst nicht unterhalten könne. Eine weitere Ampel unterbricht die Fahrt. Albert versucht, an seine Familie zu denken und daran, dass es nun mal sein Job ist, dass er das Geld braucht. „Den Arbeitern geht es hier doch besser als in jedem anderen Land Europas. Eigentlich sollten wir sie nach einem Tag wie heute einfach nicht mehr in die Betriebe lassen, damit sie mal realisieren, dass ohne uns nichts geht. Auf allen Vieren werden sie wieder angekrochen kommen, sage ich dir.“ Sein parfümierter Gesprächspartner lacht bei dieser Vorstellung kurz auf. Alberts Hände drücken sich fester in das schwarze Leder des Lenkrads. Er bemüht sich, nicht in den Rückspiegel zu schauen. „Ohne uns müssten sie sich dann am Ende des Monats entscheiden, ob sie lieber die Stromrechnung oder den Gewerkschaftsbeitrag zahlen wollen.“ Eigentlich will er noch mehr sagen, aber beide fallen unwillkürlich in ein herzhaftes Lachen. „Du sagst es, mein Lieber, wir lassen ihnen einfach zu viel durchgehen.“, stimmt schließlich der andere zu.
Dann bleibt das Taxi abrupt stehen. Albert dreht sich zu den beiden Männern um, nennt den Betrag und sagt, dass er es leider eilig habe. Die Geschäftsleute scheinen etwas verwundert über die Kürze der Fahrt, doch noch bevor sie irgendwie reagieren können, sagt Albert, dass sie sich in einer Querstraße wenige Meter von ihrem Ziel entfernt befänden. Direkt am Café könne er nicht parken. Die beiden sehen sich kurz an, dann holt der hinten links Sitzende ein paar Scheine hervor und bezahlt. Schnell hat Albert das Wechselgeld rausgegeben, etwaiges Trinkgeld ignorierend, da sind die diskussionsfreudigen Fahrgäste auch schon ausgestiegen. Die Reifen quietschen leicht, als der schwarze Wagen anfährt. Nichts wie weg, denkt Albert, der die beiden etwa eine halbe Wegstunde von ihrem Ziel entfernt rausgelassen hat. Vielleicht bin ich doch ein wenig wie Louise, sinniert der frisch gebackene Streikteilnehmer, als er einige Straßen weiter das Funkgerät ausstellt. Seine Mundwinkel heben sich zu einem Lächeln: „Nächster Halt: Place d’Italie“.

 …Fortsetzung folgt.

Von Daniel Polzin, 08.Juli’16


Folgt uns auf Facebook: www.facebook.com/nous.literatur

Entdecke mehr von nous - konfrontative Literatur

Jetzt abonnieren, um weiterzulesen und auf das gesamte Archiv zuzugreifen.

Weiterlesen