Literaturkritik: „Der Mythos des Sisyphos“ oder Die Philosophie eines Rebellen

,

Der Mythos des Sisyphos befasst sich mit der Ausgangssituation menschlicher Existenz und greift dabei seinen absoluten Widerspruch auf, welchen Camus, mit der Titulierung des ‚Absurden‘, künstlerisch bekleidet und moralisch verlacht: ist das Leben wert, gelebt zu werden, inmitten einer Welt, die nicht geeignet ist für den Menschen und der Mensch nicht geeignet ist für die Welt – oder anders, lohnt es sich zu leben, wenn ich die Sehnsucht nach Sinn im Leben habe, aber die Welt schweigt und keinen Sinn anbietet. Es ist so, als befände sich der „absurde“ Mensch in einem Verlies, über seinem Haupt das Angstloch wachend, und suche nach dem geeigneten Schlüssel, um die Tür zu öffnen, die ihn befreit, wohlwissend, dass der Schlüssel sich weder im Verlies befindet noch ein Wärter denselben hat – einen Wärter gibt es nämlich nicht, denn wer soll er sein, wenn nicht ein „lächerlicher“ Gott. –, und unwissend, dass es eine Tür nicht gibt, die seine Hoffnung illusioniert und die die Hoffnung der Illusion krampfhaft zu erfüllen hat. Ebendieser Zustand ist absurd.

Ich nenne diesen Widerspruch ‚absolut‘, weil es die erste und die letzte Agonie des Daseins des Menschen in seinem Leben ist. Sie ist nicht aufhebbar. Sie zirkelt um Handeln oder Aufgabe, um Leben oder Tod, um Lebenswillen oder Selbstmord. Ich würde behaupten, dass jeder Mensch diesem Seins-Defizit, obzwar wider Willen, begegnet ist und dass jeder denkende Mensch sich, früher oder später, mit allem Ernst die Frage des Selbstmordes gestellt hat oder stellen wird. Camus hat sich diesen Mangel, der im Grunde genommen eine Leere im menschlichen Bestreben darstellt, zum Mittelpunkt seines Lebens und seines Denkens gemacht – eine radikale Haltung.

Künstlerischen Anstrich erhält die Leere durch das Absurde, weil die Unschärfe des Irrationalen nicht anders als durch die Schärfe der Kunst begriffen werden könne – so Camus: „Wenn die Welt klar wäre, gäbe es keine Kunst.“ Und, um Missverständnissen zuvorzukommen, er verhöhnt das Absurde, ohne seinen Blick davon zu irgendeinem Zeitpunkt abzuwenden, nicht aus Geringschätzung oder Übermut, sondern eben darum, da er kraft seiner unbestechlichen Logik und eines „absurden“ Erlebnisses weiß, dass es – das Absurde – Leidenschaften zu erwecken vermag, die eine neue Moral zu begründen vermögen. Im Zentrum seines Denkens steht also der Mensch; ängstlich, nackt, gottlos, verlassen, einsam. Camus ist ein Humanist.

Das Spannungsfeld zwischen dem Menschen und der Welt macht das Absurde offenbar. Das Licht, das die Vergleichsobjekte im Verhältnis zueinander abwerfen und das sie, je weiter sie zueinander stehen, wirkungsmächtiger erzeugen, gibt dem Absurden spürbare Gestalt. Nicht ohne Grund stellt Camus die Frage des Shakespeare‘schen Dilemmas in Hamlet, Sein oder Nichtsein, das sei hier die Frage. Mit dem Fehlen des einen oder des anderen Terms, löst sich das Absurde auf. Ohne Mensch gäbe es keine Absurdität. Ohne Welt gäbe es keinen Menschen. Das Absurde ist ein Vergleich. Es ist keine Tatsache oder ein Faktum. Man darf dabei nicht verkennen, dass die Welt Camus‘ weder rational noch irrational ist. Sie hat ihre inhärenten Gesetze, nach denen sie funktioniert. In gewisser Weise hat sie sogar auch ihre Einheit, an der bspw. ein Baum teilhat. Der Mensch aber ist entwurzelt hin zum Nichts. Aus dem Blickwinkel des Menschen heraus, der ein Ausgeladener zu sein scheint, ist die Welt, angesichts seiner Sehnsucht nach Sinn, der in der Brust eines Jeden pulsiert, sinnwidrig. Sie ist unvernünftig. Mensch und Welt sind unverträglich. Camus bezeichnet diese Beziehung als „Entzweiung“. Philosophisch würde man sie wohl eher unter Dialektik, umgangssprachlich wohl unter Widerspruch kategorisieren. Für mich ist sie die Zerrissenheit des Menschen. Die conditio humana, also die Seinsbedingung des Menschen, nämlich, dass er in einer Welt etwas sucht, was in dieser nicht zu finden ist, kann man auf den folgenden Tenor runterbrechen: das Absurde ist, dass man werden will, aber nicht (werden) kann.

Wenn das Absurde in dem Essay des Mythos des Sisyphos als Ausgangspunkt betrachtet wird, den Camus mit einem „geistigen Gebrechen im Reinzustand“ beschreibt, was ist dann der Schlusspunkt, zu dem uns das Buch führt, gerade weil es eine Konfrontation mit dem Absurden sucht, gerade weil es eine beharrliche Kontinuität beansprucht?

Es führt uns ins Epizentrum des Absurden und lässt unsere Hand los.

Camus sieht im Absurden die Scham der Wahrheit. Die Zugewandtheit der Welt ist eine Einbildung. Wenn ich die Gleichgültigkeit der Welt erhasche, beginne ich meinem Leben zunehmend fremd gegenüberzustehen. Und je fremder ich mich meinem Leben gegenüber fühle, desto unabhängiger werde ich, da ich mir meiner Begrenztheit bewusst werde. Die Grenzen markieren das Absurde und damit meine Existenz. Dabei spielen Angst und Befremdlichkeit eine große Rolle. Indem man sich dem Absurden stellt, Tag ein, Tag aus, ohne sich mit ihm zu befreunden, ohne ihm den Rücken zuzukehren, ohne ihn auszublenden, zu keiner Zeit, sondern sich immer wieder gegen ihn auflehnt, ihn anerkennt, ihm in die Augen schaut, sich ihm stellt, den Kampf aufnimmt, befreit man sein Denken von jeglichem Ballast, um Kräfte freizusetzen, die das Gewicht der eigenen Existenz tragen können. Dann beginnt die Einsicht: es liegt in der Existenz, verantwortlich zu sein und ferner in der Freiheit, sich zu engagieren.

Der Selbstmord wäre eine Resignation im Hinblick auf die Lebensfülle, die das Absurde zu bieten vermag. Der Selbstmord wäre unlogisch. Angesichts des Absurden müsste man seine Existenz voll ausschöpfen statt sie zu vernichten. „Das Absurde hat nur insofern einen Sinn, dass man sich nicht mit ihr abfindet. … Es geht darum unversöhnt(!) und nicht aus freiem Willen zu sterben. Der Selbstmord ist ein Verkennen.“

Hat der absurde Mensch sich einer „menschlichen“ Vernunft erst entledigt, die alles zu vereinen und rationalisieren versuchte, da sie die Dinge ja ausschließlich menschlich begriff und seine Logik in der Sinnsuche lag, so wird er eine hellsichtige Vernunft entwickeln. Diese lichtet die Dunkelheit mit der Klarheit, sie bleibt lernfähig, weil sie zu erkennen und zu erklären versucht und befreit. Dann gilt nur die Evidenz, nur das Unmittelbare. Der absurde Mensch tastet sich umsichtig voran und wird so der Verantwortung anderer gegenüber und der Verantwortlichkeit seiner Existenz gegenüber gewahr. Er wird aufrichtig. Er wird demütig. Er wird kämpferisch.

Vorerst muss der Mensch das Absurde jedoch erleben. Das Absurde zu erleben, beginnt mit einem Aufschrei – mit einem ‚Warum‘ aus der ewigen Finsternis unseres Daseins. Erst ist das Gefühl, dann ist das Wort. Erst kommt die Erschütterung, dann die Unzulänglichkeit. Der Mensch muss begreifen, dass er zwischen dem Rausch des Lebens und der Tristesse des Tods steht, damit er sich der Absurdität seiner Existenz stellen kann. Dort ist es dunkel. Dort liegt der Grund seiner tiefen Freiheit. Denn das Absurde vergegenwärtigt ihm pausenlos: es gibt kein morgen.

Camus negiert die Hoffnung unmissverständlich im umfassendsten Sinn, da sie Euphemismus und Illusion vermittelt. „Man muss erkennen, dass dieser Kampf die Abwesenheit jeder Hoffnung voraussetzt sowie fortgesetzte Ablehnung und bewusstes Unbefriedigtsein.“ Hoffnung ist die Leugnung der eigenen Existenz. Denn sie lässt in der Zukunft leben, obwohl man in der Gegenwart steht. Die Hoffnung, und mit ihr die menschliche Vernunft, umspannt die Welt mit einem barocken Kleid, dessen Glanz uns in die singende Poesie hebt. Sie verzaubert die Welt. Dieser Verzauberungsschleier kaschiert den Blick. Sie macht alles menschlich, trotzdem die Welt nicht menschlich ist. Sie schafft Trost. Sie schafft Glaube. Dieser verzerrende Zauber aus dem Jenseits religiöser Begierde ist die Metaphysik, die den „philosophischen Selbstmord“ antreibt und ausdrückt. Gerade unter jenem Schleier offenbart sich die Unmenschlichkeit des Universums. Das Universum kennt weder Barmherzigkeit noch Gnade. Die Hoffnung lastet auf dem Bewusstsein und trichtert ihm ein, alles bestehe kraft Menschenhand – auch Gott ist ein Abwurf des Menschen. Im Grunde genommen ist die menschliche Vernunft ein beispielloser Versuch von Arroganz und Hochmut gegenüber einem Opponenten – das Universum –, den solche Allüren nicht im Geringsten interessieren. Das Absurde entzaubert alles. „Der Verlust an Hoffnung und Zukunft bedeutet für den Menschen einen Zuwachs an Beweglichkeit.“ Es verweist auf die Grenzen, Schranken und Hindernisse, die unsere Existenz markieren. Die Hoffnung hingegen hebt die Grenzen auf, verwischt die Markierungen und erweckt Träume, die sie nicht erfüllt. Sie schafft eine Dissonanz. Aber, „ein Mensch, der keine Hoffnung hat und sich dessen bewusst ist, gehört nicht mehr der Zukunft.“ Er gehört der Gegenwart. Sein Bewusstsein ist in ständiger Anstrengung. Er atmet in Aufmerksamkeit. Der absurde Mensch sucht keine Ruhe, da es sie nicht gibt; er stürzt sich in die Unruhe.

Durch die Anerkennung des Absurden entsteht eine Luzidität, die die ständige Anspannung des Bewusstseins erfordert und ein verantwortungsvolles Leben schafft. Ein bewusstes Leben ist ein freies Leben. „Die einzige Freiheit, die ich kenne, ist die des Geistes und des Handelns.“

Dieser Zustand ist die permanente Revolte des absurden Menschen. Indem der absurde Mensch das Absurde annimmt, verschreibt er sich einer ewigen Auflehnung gegen die Bedingungen, die ihm das Absurde setzt. Das Absurde ist, wie mir scheint, keineswegs so abstrakt gemeint, wie es klingen mag. Im Gegenteil, denke ich, findet es konkreten Ausdruck im alltäglichen Leben. Beispielsweise ist das Absurde die materielle Ungleichheit unter Menschen, Armut angesichts des Reichtums, Obdachlosigkeit, Hungertod, Todesstrafen, Folter, Verteilungskriege usw. Der absurde Mensch ist ein Rebell; vielleicht ein Anarchist; zumindest ein Aufrührer – um der Sache des Menschen willen.

Wenn der Kampf gegen Gipfel Menschenherzen auszufüllen vermag, warum müssen wir uns Sisyphos dann als einen glücklichen Menschen vorstellen? Eben das brauchen wir nicht. Eben das zeugt von Ansätzen eines Moralismus. Eben das macht die Stärke des Sisyphos manisch. Eben das schürt den Vorwurf, der Mensch sei eine literarische Gattung – ein Drama. Mit diesem Schlusssatz ist Camus – ein sensibler und aufrichtiger Denker – entweder inkonsequent oder als philosophischer Literat ein brillanter Rhetoriker. Wie dem auch sei: „Das Wahre suchen heißt nicht das Wünschenswerte suchen.“

 

Von Mesut Bayraktar, 3.Mai 2016

Weitere Rezensionen auf Nous:

Albert Camus‘ „Die Gerechten“ oder Terror als Ultima Ratio?

Albert Camus‘ „Der erste Mensch“ oder Die Geschichtslosen

Stendhals „Rot und Schwarz“ oder Der heuchlerische Imperativ

 


Anmerkung: Alles, was in Anführungszeichen gesetzt ist, sind Zitate aus dem Buch.

Folgt uns auf Facebook: www.facebook.com/nous.literatur

Entdecke mehr von nous - konfrontative Literatur

Jetzt abonnieren, um weiterzulesen und auf das gesamte Archiv zuzugreifen.

Weiterlesen