Krieg im Frieden: Der mächtigste Akteur ist aufgestanden!

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Frankreich – Präsident Hollande tritt mehr und mehr in die Falle seines eigenen Einfalls. Vor dem Hintergrund der Pariser Attentate spielte er sich als patriotischer Landesvater auf, der hochtrabend erklärt hatte, dass sich Frankreich im Krieg – im strengen Sinne seiner Kriegserklärung genommen – gegen eine Handvoll dschihadistischer Europäer befinde, um dann angesichts des proklamierten Ausnahmezustandes eine repressive Verfassungsänderung und eine antisoziale Arbeitsmarktreform durchzuführen. Nun, die arbeitende, französische Bevölkerung mag hitzig und temperamentvoll sein, wie wir aus der Geschichte wissen, aber vor allem ist sie nicht kopflos, sondern kühn, klug und weitsichtig.

Wie ist der Stand um beide Reformen?

Die eingeleitete Verfassungsänderung, die den Ausnahmezustand, den sog. état d’urgence, in die Verfassung festschreiben sollte, welcher dann ein ideales Instrument für einen Staatsstreich, einen sog. coup d’état, für Rechtsradikale und –konservative wie Front National wäre (Siehe: Frankreich birgt eine Gefahr für Europa)), wurde letzte Woche Mittwoch vom Präsidenten höchstpersönlich zurückgenommen. Hintergrund: auf parlamentarischem Weg eingeleitete Verfassungsänderungen setzen nach französischem Recht die Zustimmung aller hohen Staatsorgane der Exekutive und Legislative, d.h. Nationalversammlung, Senat, Regierung, Präsident, voraus. Im Zuge dieser komplizierten Prozedur war der Senat, der Dezember 2015 noch seine wohlwollende Einstimmigkeit Präsident Hollande anzeigte, missmutig unentschieden. (Möglicherweise ein politischer Coup der oppositionellen Senatsmitglieder nach folgender Logik: im nationalen Terrorschock dem patriotisch abgehobenen Präsident zur Verfassungsänderung zunicken, um einige Monate darauf, nachdem sich die allgemeine Situation abgekühlt und die sozialen Gegensätze nationale Einheitlichkeitsillusionen aufgebrochen hat, planmäßig abzulehnen, damit der Präsident mit seiner fixen Idee auf den Boden der Tatsachen schmettert. Schließlich ist 2017 die Präsidentschaftswahl!) Die Verfassungsänderung ist also gefallen und wird geschichtlich früher oder später zur bedeutungslosen Anekdote der bedeutungslosen Amtszeit des Präsidenten Hollande. Die Komödie: Hollande hat die Verfassungsänderung patriotisch selbst eingeleitet – Hollande nimmt nun selbst die Verfassungsänderung patriotisch enttäuscht wieder zurück. Da haben wir ihn wieder, den faustischen Wagner, der alles wissen will, aber von allen veralbert wird.

Wie steht es um die neoliberale, antisoziale Arbeitsmarktreform, die – nach dem geistigen Vater aus Deutschland, Agenda 2010 à la Schröder – Lohnkosten weitgehend minimieren soll, um Weltmarktanteile durch ähnliche Wettbewerbsvorteile gleich dem großen Bruder aus Deutschland zu gewinnen, die dann die Profite der französischen Lohnherren weitgehend maximieren werden? Noch ist nichts entschieden – wie man letzte Woche Donnerstag, den  31.03.2016, sehen konnte.

Die Politik ist das Fazit der gesellschaftlichen Bewegung, welche sich auf dem Boden der materiellen Verhältnisse, der permanent sich wälzenden Wirtschaft, bewegt. Und das politische Fazit ist derzeit ungewiss. Allerdings ist ein Stoß aus der gesellschaftlichen Bewegung ausgegangen. Feststeht: die PS, die Partei Hollandes, hat durch ihre pseudolinke Reserveamtszeit des Kapitals mächtig verloren. Die LP ist weitgehend mit Sarkozys Millionenspendenaffäre vom seinerzeitigen Gaddafi aus Libyen beschäftigt. Aber auch die Front National kann sich ihrer Siege, insb. mit Blick auf die Präsidentschaftswahl 2017, nicht sicher sein. Denn die rechte Propaganda ist wirkungslos gegen die Kausalität sozialer Gegensätze, die nicht durch Nationalismus etc. wegzureden, allenfalls zeitweise zu überstreichen sind. Spätestens letzte Woche ist nämlich in Frankreich der mächtigste Akteur der Gesellschaft wieder aufgestanden, um sein Mitspracherecht geltend zu machen: die arbeitende Bevölkerungsklasse.

Wir sind keine Berichterstatter; alle haben die Bilder und Videos gesehen und jene, die Zeitung lesen, haben von allen Seiten erfahren, welch mächtiges und selbstbewusstes Signal die arbeitende Bevölkerungsklasse ausgesendet hat, über die Einige verlegen und Viele per se aus ihrer sozialen Rolle und gesellschaftlichen Situation heraus motiviert wurden. (Man denke an die Hysterie der Einigen im Zuge der kleinen Arbeiterfurore bei Air France, da bei Air France derzeit 3000 Arbeitsplätze, d.h. Existenzgrundlagen, abgebaut werden sollen.)

Mehr als eine halbe Millionen Arbeiterinnen und Arbeiter, Studenten, Schüler und Gewerkschaftsfunktionäre sind letzte Woche Donnerstag aufgestanden und haben tapfer ihren eintägigen Generalstreik vollzogen; in Paris, Lyon, Marseille, Nantes, Toulouse. Bedeutsam sind nicht die in den Leitmedien vorgeschobenen Bilder, worin Volksprotest mit Staatsgewalt zusammenprallt und womit die kapitalstarken Leitmedien den Widerstand von über 500.000 Menschen in der öffentlichen Meinung auf sogenannten gesetzlosen Vandalismus zu reduzieren versuchen. Nein, das wirklich Bedeutsame ist, dass mit dem Generalstreik ein ungeheuerlicher Angriff auf die Kapitalakkumulation, auf die kapitalistische Wirtschaftsweise, kurz auf den Profit der Kapitalisten stattfand, der sicherlich in dreistelligen Millionen zu beziffern ist. In diesem Kapitalverlust liegt die eigentliche Entrüstung der französischen Kapitalisten und aller sich über den Generalstreik echauffierenden Leitmedien. Das soziale Bedürfnis gilt ihnen nicht. Man überlege; was würde geschehen, wenn ein organisierter Generalstreik eine halbe oder eine Woche anhalten würde, was würde mit den Nationalisten, was mit den Kapitalisten, was mit Rassismus, Völkerhass, Pegida & Co. geschehen – die Antwort überlasse ich den Lesern. Jedenfalls würden die vorbezeichneten Kreaturen und Mystifikationen in ihre wahre Relevanz zurückfallen: ins bedeutungslose Nichts.

Irgendwo schreibt Karl Marx, dass ein Arbeiter im Verhältnis zu seinem Kapitalisten selbstverständlich nicht diesem einen Kapitalisten, der die Arbeitskraft des Arbeiters wie eine Ware gegen Entgelt mietet, gehört und deswegen nicht von diesem einzelnen Kapitalisten abhängig sei. Er kann diesen einen Kapitalisten jederzeit verlassen. Darin unterscheide sich der Arbeiter geschichtlich vom Leibeigenen und darum sei der Arbeiter frei; er ist ein freier Arbeiter in der bürgerlichen Gesellschaft, d.h. frei sich einem Kapitalisten gegen Entgelt zu verdingen. Aber, fügt Marx hinzu, da die einzige Einkommensquelle des Arbeiters der Verkauf seiner Arbeitskraft ist, womit er seine Existenz begründet, mag er zwar den einzelnen Kapitalisten verlassen können, aber die Summe aller Kapitalisten, die Klasse der Kapitalisten, Brotgeber und Lohnherrn, kann er nicht verlassen, ohne gleichzeitig seine Existenz zu Grunde zu richten. Somit mag der Arbeiter, da er von dem Verkauf seiner Arbeitskraft lebt, mithin einen Käufer seiner Arbeitskraft braucht, einen Kapitalisten verlassen können, aber die Gesamtheit der Kapitalisten kann er niemals verlassen. Der Arbeiter ist nicht abhängig von einem Kapitalisten, er ist abhängig von der ganzen Klasse der Kapitalisten.

Warum dieser Exkurs? Weil ich meine, dass mit dem oben genannten ökonomischen Angriff des Generalstreiks, der abermals zeigt, dass die Lohnarbeit objektiv ein permanenter Protest gegen eine Gesellschaftsordnung ist, die mit dem Kapitalprofit steht und ohne ihn fällt, ein mental wertvoller Sieg errungen wurde: Arbeitskampferfahrung, d.h. die Schärfung des individuellen Bewusstseins in einer sozial fixierten Rolle gesellschaftlich zu fungieren.

Wie dem auch sei, die arbeitende Bevölkerung in Frankreich beginnt wieder Bewusstsein von ihrer sozialen Rolle im Kapitalismus und von ihrer Macht in demselben zu gewinnen. Der objektive Widerspruch im Bewusstsein des Arbeiters, auf der einen Seite im oben dargestellten Sinn freier Arbeiter zu sein und auf der anderen Seite kraft seiner totalen Abhängigkeit von Kapitalisten Teil der arbeitenden Klasse zu sein, auf seine Klasse zurückgeworfen zu werden, drängt sich besonders in jener Zeitspanne auf, zwischen dem der Arbeiter seinen Arbeitsplatz verliert und einen neuen sucht, ohne bereits in das zermürbende Armutsapparat des Staates versunken zu sein. Denn im Armutsapparat beginnt die mentale Resignation und die Distanz zum Arbeitsklima, ggf. auch zu einer Arbeiterorganisation. Das heißt, das klassenmäßige Bewusstsein des Arbeiters drängt sich nahezu auf, wenn er seine Arbeit verliert, wofür die Gesetze des Kapitals sorgen, und während er noch auf der Suche nach einem neuen Arbeitsplatz ist, d.h. einen neuen Kapitalisten, der seine Arbeitskraft gegen Entgelt mietet, sucht. Denn dann (sozusagen mit der Betriebsluft seiner frischen Entlassung) erfährt der Arbeiter offensichtlich, dass Arbeit vom Kapital unterdrückt wird, dass er total abhängig ist, dass die Totalität der Gesellschaft absolut vom Kapital bestimmt wird, dass der Kapitalprofit seinen realen Bedürfnissen gegenüber absolut feindlich entgegen tritt,  dass er –  gleich wie Kafkas Karl Roßmann in Amerika – Statist seine eigenen Lebens ist.

Mit Blick auf Frankreich: Frankreichs Wirtschaft ist im desolaten Zustand. Kaum Wachstum; zweitgrößte Arbeitslosenzahl in Europa; laut ganz aktuellen Daten 3,59 Millionen Arbeitslose, was ein Rekordhoch seit über 18 Jahren darstellt; monatlich wächst die Arbeitslosenzahl; im Vergleich zum Vormonat sind 38.400 Lohnabhängige arbeitslos geworden; die Jugendarbeitslosigkeit ist ebenso steigend; zu alle dem ist die Staatsverschuldung sehr hoch, d.h. der Staat ist übermäßig vom Kapital abhängig, im globalen Maß bemessen vom Kapital durchdrungen. In dieser sich täglich zuspitzenden Lage, worin die sozialen Gegensätze immer krasser miteinander kollidieren, merkt die arbeitende Bevölkerung, dass ihnen die Diktatur des Kapitals wenig Abhilfe bieten kann, zumal dem Namen nach ein regierender Politiker der Sozialistischen Partei (PS) auch nicht soziale Politik im Rahmen des Kapitals zu betreiben im Stande ist. Es bleibt abzuwarten, wie sich Dinge entwickeln. Und vor allem bleibt abzuwarten, ob der Generalstreik der Startschuss für eine langatmige Bewegung der Arbeiterinnen und Arbeiter hin zu ihrer Demokratie sein wird oder doch von der herrschenden politischen Klasse unterwandert und parlamentarisch in die bürgerliche Demokratie kanalisiert wird. Soll es das erste sein, so muss die arbeitende Bevölkerung erfahren, dass angesichts der desolaten Lage Frankreichs ausschließlich sozialistische Politik fähig ist, eine solidarische, demokratische und fortschrittliche Gesellschaftsordnung zu etablieren, die den Verwertungsapparat des Kapitals überwindet. Das bedeutet, die Vergesellschaftung der Produktionsmittel, die Vergesellschaftung des Kernindustrie- und Bankkapitals zu fordern. Doch bis dahin muss auch der Rest in Europa, müssen die europäischen Lohnabhängigen solidarisch aufstehen und den Aufbau ihrer Ordnung fordern, worin sich die Arbeit vom Kapital emanzipiert. Allerdings, zumindest ist die französische arbeitende Bevölkerung im allgemeinen europäischen Rechstaumel aufgestanden. Und mit ihrem Aufstand hat sie einen gewaltigen Stoß durch die Gesellschaft losgetreten, der über die Landesgrenzen hinaus in ganz Europa spürbar ist und sein wird.

Kommen wir zurück auf die antisoziale Arbeitsmarktreform. Man sieht, mit dem Donnerstag ist die geplante Reform gewaltig in Frage gestellt. Die Proteste haben über das Wochenende und bis heute angehalten. Auf der anderen Seite hat mit dem Scheitern der Verfassungsänderung Hollande einen empfindlichen Schlag erlitten. Sollte auch die Arbeitsmarktreform scheitern, dann wird er politisch tot sein; nicht zuletzt, weil in dem Fall die Kapitalseite sich dann vollends vom Präsidenten abwenden wird. Da aber die Kapitalseite hinter der Arbeitsmarktreform steht und die Kapitalseite stets kalkulierend, skrupellos und zählebig ist, wird sie die Aufgabe der Arbeitsmarktreform mit ganzer Energie verhindern suchen. Sollte die Arbeitsmarktreform aber tatsächlich Scheitern, bestünde kein hinreichender Grund mehr, Le Pens zu meiden. Das hieße, dass die Kapitalseite sich nächstes Jahr in die Arme von Le Pens Front National wirft, die eine andere, rechte Gangart gegen Arbeiterinnen, Arbeiter, Generalstreiks, Aktionen der Gesellschaft etc. haben wird.

1023846593Warten wir ab. Philippe Martinez, Sekretär der mit rund 700.000 Mitgliedern größten Arbeitervertretung CGT, erklärte: „Die Botschaft der Lohnabhängigen und Studenten ist klar: Die Regierung muss endlich zuhören und Demokratie akzeptieren.“ Nun, die Regierung hat nur Ohren für Kapitalisten. Sie wird nicht zuhören, ohne dass dabei der Ast der Regierung von den Kapitalisten abgesägt wird. Daher wird sie auch nicht Demokratie akzeptieren. Denn Folgendes steht fest. Die Geschichte des modernen Klassenkampfes beweist: den Lohnabhängigen, also jenen, die ihre Arbeitskraft einem unabhängigen Lohnherren zu vermieten abhängig sind, um existieren zu können, wird nichts geschenkt. Die Geschichte der unkritischen politischen Ökonomie zeigt: dies ist systematisch gewollt. Doch klassenbewusste Arbeiterinnen und Arbeiter wissen, dass ihre sozialen Forderungen nach Arbeit, Arbeitszeitverkürzung, mehr Lohn, unentgeltliche Bildung für alle, unentgeltliche Rechtspflege, adäquater Obdach etc. nur durch die Aufhebung des kapitalistischen Prozesses möglich sind, dass für sie Demokratie nur eine Demokratie der ungeheuren Mehrzahl der Gesellschaft bedeuten kann: der Sozialismus.

Über das Wochenende wurde von hartnäckigen Protestlern der Place de la République besetzt. Zu Beginn der Woche wurde der Platz von der Staatsgewalt geräumt. Auf dem Place de la République fanden ab Donnerstag auch die großen Versammlungen statt. Man täusche sich nicht: der Place de la République ist nicht der einstige Place de la Révolution eines Saint-Just, Danton, Robespierre, Marat von 1789. Der Place de la République ist der Platz eines Delescluze von 1871. Der Place de la République war das letzte Bollwerk der Pariser Kommune, das die preußischen Kanonen unter Bismarck zerbombt hatten. Und – wer kann das schon vorhersehen – vielleicht wird es das soziale und demokratische Bollwerk im 21. Jahrhundert.

Von Mesut Bayraktar, 7. April 2016


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