Mutter Natur

,

„Erzählen Sie mir bitte genau, was an jenem Tag passiert ist.“
„Ich weiß nicht so recht, ob ich darüber sprechen möchte“, sagte Jakob etwas unsicher. Der Raum, in den man ihn vor knapp einer Stunde gebracht hatte, war klein. Ein Tisch und zwei Stühle fanden notgedrungen ihren Platz. Fenster gab es keine, ein Schacht an der Decke lieferte den beiden Anwesenden gerade genug Sauerstoff zum Atmen. „Ich meine, sie wissen sicherlich schon alles, oder?“
„Ja, das mag sein, aber ich würde es gerne aus ihrem Mund hören.“ Sein Gegenüber war ein Mann, so etwa Mitte dreißig, schätzte Jakob. Er trug einen eleganten Anzug mit passender Krawatte und hatte ein außerordentlich hübsches Gesicht, dunkles, volles Haar und eine modische Brille auf der Nase. Der Schönling, wie er seinen Gesprächspartner in Gedanken nannte, hatte eine immense Wirkung auf den jungen Jakob. „Seien Sie unbesorgt. Es handelt sich hier lediglich um eine Formsache.“
Selbst die Aussprache des Schönlings war besonders und so kam es, dass er trotz eines gewissen Unbehagens es nicht vermochte, sich seiner Aufforderung zu widersetzen.
Jakob senkte seinen Blick zum Boden und fing schließlich an zu erzählen: „Nun gut…Ich glaube es war Dienstag. Ich kam an diesem Tag etwas zu spät zur Arbeit, da ich es nicht vermochte, mich aus dem Bett zu ziehen. Ein wirklich seltsamer Morgen. Die Arbeit verlief wie immer. Nun ja, fast. Ich war etwas geistesabwesend. Irgendwie halt nicht ganz bei der Sache. Aber wahrscheinlich ist das kein Wunder, bei dem, was mich noch erwarten würde, nicht wahr?“
„Selbstverständlich“, bestätigte ihn der Schönling. „So was kommt öfters vor, aber erzählen sie weiter. Was geschah dann nach der Arbeit?“
„Ich bin nach Hause gegangen, so wie gewohnt. Als ich da ankam, da spürte ich irgendwie so eine Leere und Einsamkeit. Das war unerträglich. Ich entschied mich also, dem Abhilfe zu schaffen und, nun ja…und meine liebe Mutter zu besuchen, wissen sie?
„Natürlich.“, bekräftigte er ihn erneut. „Nur weiter junger Mann.“
„Dort angekommen begrüßte sie mich sehr herzlich. Sie liebt Besuch. Sich um ihn zu kümmern, verstehen Sie? Sie bereitet dann immer gleich alles vor. Eine warme Mahlzeit stand schon auf dem Tisch. Dazu gibt es immer diese köstlichen, frisch gepressten Säfte. Davon kann man gar nicht genug kriegen.“ Wie er da saß, den Blick stur auf den Boden gerichtet, unfähig dem Schönling in die Augen zu schauen, bekam man den Eindruck, Jakob führe Selbstgespräche. Zusätzlich machte er unregelmäßige Atempausen, wodurch das ein oder andere Wort verschluckt wurde. Dennoch, der Schönling nickte stetig mit scheinbar vollstem Verständnis den Kopf. Nebenbei machte er ein paar Notizen auf einem Stück Papier, das vor ihm lag. „Nun ja, wir saßen da erst einmal und aßen in aller Ruhe. Sie hatte mal wieder so viel gekocht, dass man noch ruhig hätte weitere Personen satt bekommen können. Aber das war ich schon gewohnt…Eigentlich ist es ja ganz schön bei ihr; vor allem der Duft im Haus. Magisch, sage ich ihnen. Das vermag man gar nicht in Worte zu fassen. Eine Mischung aus wilder Waldluft und einem weise ausgewählten Sortiment an Blumen. Meine Mutter wohnt etwas abseits der Stadt, in einem kleinen Haus. Alles sehr rustikal. Aber durchaus schön anzusehen, wie ich finde. Jedenfalls, das Haus befindet sich, wie ich schon erwähnt hatte, etwas abseits, um genau zu sein am Fuße eines kleinen Berges. Nicht leicht zu finden, da es mitten in einem Wald liegt, der von Birken und Eichen bewachsen ist. Ich glaube, es ist den Bäumen zu verdanken, dass es dort so gut riecht…Aber was weiß ich schon, ich bin nur selten außerhalb der Stadt.“
„Möglich.“, entgegnete ihm der Schönling. „Wie ging es dann nach dem Essen weiter?“
„Ja, nach dem Essen.“, stammelte er mit merklich zunehmender Anspannung. „Wir haben uns unterhalten und dabei ganz die Zeit vergessen. Es wurde wirklich spät. Also bot sie mir an, im Gästezimmer zu übernachten, welches für solche Fälle immer bereit steht, wissen sie? Ich hielt das für keine schlechte Idee. Wir gingen also hoch ins Gästezimmer. Dort hat man vom Fenster aus eine ausgezeichnete Aussicht auf die Landschaft. Sicherlich einem Gemälde würdig …“ Jakob ließ den Kopf nun noch tiefer hängen und seine Worte waren kaum mehr vernehmbar. „Ich fühle mich jetzt nicht so gut. Können wir nicht eine Pause machen?“
„Leider ist das nicht möglich. Sprechen Sie weiter.“, befahl sein Gegenüber.
„Nun gut…Als wir dann da so standen. Also im Gästezimmer. Sie wollte sich gerade von mir verabschieden und ich…ich weiß nicht wieso, aber ich…ich habe sie plötzlich gepackt und dann zu Boden gerungen…ich fing an, sie zu würgen…mit voller Kraft! Ich habe ihr dabei direkt ins Gesicht geschaut…konnte sehen, wie sie vergeblich nach Luft schnappte, wie ihre Augen sich rot färbten und ihre schöne Haut erbleichte…sie zappelte, wehrte sich, doch es war zwecklos. Sie hatte keine Chance. Ich hörte nicht auf und sah weiter zu, bis sie erstickte, bis alles Leben ihren einst so fruchtbaren Körper verlassen hatte. An diesem Dienstagabend habe ich meine Mutter ….“
„ … ermordet!“, beendete der Schönling sichtlich zufrieden den Satz. „Sie haben ihre Mutter kaltblütig ermordet.“
„Ja, ja es stimmt. Aber hören sie mir zu; ich wollte das nicht“, klagte Jakob. Man sah ihm an, dass seine Rede ihm alle Kraft gekostet hatte. Sein Herz raste und ein übles Schwindelgefühl ergriff ihn.
„Natürlich nicht und wieso haben sie es dann getan?“
„Das sagte ich doch schon. Ich hab nicht nachgedacht. Ich weiß es nicht. Ich…“
„Genug! Ich habe alles, was ich brauche“, unterbrach ihn der Schönling. „Wir sind dann hier fertig. Sie können nach Hause gehen.“
„Was?“, rief Jakob.
„Sie können gehen. Das haben sie ganz großartig gemacht. Wir danken ihnen.“
„Ich verstehe nicht ganz. Muss ich nicht ins Gefängnis?“
„Gefängnis?“, wiederholte der Schönling in solch einem sonderbaren Ton, dass Jakob nicht umher kam seinen Kopf zu heben. Er sah, wie der bereits stehende Schönling hämisch grinsend auf ihn herabblickte. Die feinen Gesichtszüge und alle Anziehung waren von ihm gefallen. Was blieb, war eine hässliche Fratze, die in ihm Ekel hervorrief. „Wieso sollten sie?“, fuhr er fort. „Alle ermorden doch ihre Mutter? Wussten sie das nicht. Das ist der Preis. Der Preis für dieses ausschweifende Leben, welches wir führen. Seien sie nicht so naiv!“
Ohne Jakob auch nur eines weiteren Blickes zu würdigen, nahm er das Stück Papier vom Tisch, steckte es in seine Aktentasche und verließ selbstgefällig den Raum. Jakob hingegen blieb noch eine Weile sitzen. Er hatte es endlich begriffen, nur war es bereits zu spät. Die Mutter war tot und nichts würde sie wieder zum Leben erwecken. Alleine, verloren blieb er zurück. Seine Augen brannten und Tränen der Reue flossen über seine Wangen.

 

Von Kamil Tybel


Folgt uns auf Facebook: www.facebook.com/nous.literatur

Entdecke mehr von nous - konfrontative Literatur

Jetzt abonnieren, um weiterzulesen und auf das gesamte Archiv zuzugreifen.

Weiterlesen