Frohe Weihnachten

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I.

Schneebedeckte Straßen, alles still, alles ruhig. Ein müder, kalter Wind schleicht bedächtig an den Wänden der Häuser entlang, bis hin, in den etwas versteckten, kleinen Hinterhof der Familie Wohl, wo Lara gerade erwartungsvoll mit ihrem älteren Bruder Erik in den dunklen, jedoch klaren, schwarzen Himmel schaut.
Besonders die Kleine bemüht sich, alles im Blick zu behalten und ja nicht den ersten Stern der Nacht zu verpassen. Er läute nämlich, so sagte man ihr, die Ankunft des Christkindes ein und somit auch den Beginn der Feierlichkeiten. Im Kindergarten hat man Lara oft Märchen vom Christkind erzählt, in denen steht, es sei ein ganz liebes und sehr armes Kindchen, dass in einer alten Scheune geboren wurde. Und obwohl es arm war und es nicht leicht hatte, beschenkt es uns jedes Jahr an Weihnachten. Lara liebt das Christkind und dieses Weihnachten. Alles ist dann so bunt und schön und die Leckereien auf dem Weihnachtsmarkt erst! Aber jetzt gerade ist sie höchst konzentriert, gar so konzentriert, dass sie die Augen etwas zusammenkneift und ihre Lippen spitzt. Dieses Jahr will Sie das erste Kind auf der ganzen weiten Welt sein, das den Stern findet und dem vermeintlichen Christkind freudig entgegen lächelt.

Laras Bruder, Erik, ist schon 14 Jahre alt, also ganze acht Jahre älter als sie. Das Christkind? Welch unnötiger Brauch und Glaube! So wie alle Erwachsenen auch, meint Erik zu wissen wer für die Geschenke an Weihnachten verantwortlich ist. In seinem Fall sind es ja Herr und Frau Wohl, die sie unter den Weihnachtsbaum legen. Wenn einem Aufmerksamkeit gebührt, dann ihnen, oder nicht? Genau aus diesem Grund ist Erik auch diesen Weihnachten alles andere als geizig mit seinem Wunschzettel gewesen. Der Ärger Herr Wohls bei der Übergabe dieses pikanten Schriftstücks ließ sich dadurch deutlich spüren, aber dies war gemäß seinem Plan. Erik folgte nämlich einer simplen, jedoch bewährten Strategie. Lieber zu viel als zu wenig drauf schreiben, vielleicht werden nicht all meine Wünsche erfüllt, aber zumindest hole ich das Meiste raus, so schloss er. Außerdem ist Mutter stets auf meiner Seite, was auf eine reiche Bescherung hoffen lässt. Als Erik sich gerade in Gedanken die Hände reibt, ruft Lara plötzlich aus dem Nichts die Stille zerbrechend: „Da ist er! Ich seh ihn. Da! Guck doch Erik! Da ist ein Stern. Ganz allein ist er! Siehst du ihn? Kannst du ihn sehen? Er ist so hübsch!“.

„Ja“, erwidert Erik ohne hinzuschauen. Ihm ist kalt und er langweilt sich. Empört schnappt Lara sich seinen Ärmel und zerrt an ihm. „Dummkopf! Das ist der Stern des Christkindes! Schau! Du musst schauen, ohne uns ist er doch verloren. Hörst du Erik? Ohne uns wird er traurig und einsam sterben. Und…und ohne ihn gäbs auch keine Geschenke!!“, erklärt die Kleine mürrisch im kindlichen Ernst. Etwas verblüfft über Laras Eifer und seltsam formulierten Anschuldigung, hebt Erik sein Haupt. Tatsächlich, da ist ein Stern. Mild flimmernd scheint er auf den Jungen herab. Wider Erwartung regt sich wirklich etwas in ihm, doch hat es nichts mit dem Christkind zu tun, oder Weihnachten, nein, es handelt sich dabei um etwas Greifbareres und Allgegenwärtigeres. Der Stern? „Lass uns gehen, es ist kalt“, beschließt er Laras Hand ergreifend.

Im Wohnzimmer werden die Kinder herzlich von ihren Eltern in Empfang genommen. Nach Laras lebhafter Beschreibung der schwach funkelnden Schneeflocke am Firmament, bestaunen die Kinder die reichlichen Geschenke unter dem feierlich geschmückten Tannenbaum.

Dieses Jahr waren die Weihnachtseinkäufe besonders stressig für Herr und Frau Wohl und dies nicht nur aufgrund Eriks umfangreicher Wunschliste. Durch die Massen an Kauflustigen, war das Ehepaar in ihrem kleinen Familienbetrieb dermaßen ausgelastet, dass alle Besorgungen erst am gestrigen Tag getätigt wurden. Wer ebenfalls schon einmal das Vergnügen hatte, die Innenstadt so kurz vor Heiligabend zu betreten, kann ihren Stress nachempfinden und weiß von den ewig langen Schlangen an den Kassen, dem Gedrängel und den Scharren von Menschen mit anschwellenden Einkaufstüten in den Händen. Aber auch jene, die sich bis jetzt davor bewahren konnten, können es sich sicher vorstellen. Bevor jedoch die Bescherung endlich beginnt, wird gegessen. Der Tisch ist gedeckt und die üppige Mahlzeit bereits serviert. Es gibt Ente mit Kartoffeln in köstlicher Sauce, Suppe und frisch gebackene Brötchen, Salate und dazu natürlich das ein oder andere Gläschen Wein für Herr und Frau Wohl. Die Kinder trinken Orangensaft; ebenfalls aus Weingläsern. Im Hintergrund trällerte etwas weihnachtliche Musik.

Nach bewältigter Vor- und Hauptspeise entschließt sich Familie Wohl aufgrund ihrer anschwellenden Bäuche die Nachspeise auf später zu verlegen und sich endlich den Geschenken zu widmen. Lara springt bei diesem Startschuss sofort auf, um sie zu verteilen. Ausgeteilt, betrachtet Erik die Seinigen. Mehr als erwartet! Eins nach dem anderen reißt er ausgelassen auf und macht sich den Inhalt zu Eigen. Aus einem der weihnachtlichen Verpackungen zieht er einen Pullover heraus. Er ist schwarz und ist mit einem großen Smiley bestickt, der zwinkert. Unwillkürlich denkt Erik einen kurzen Augenblick an den dünn leuchtenden Stern. Dann legt er schließlich das Kleidungsstück fast schon mechanisch zur Seite und greift zum nächsten Päckchen.

II.

Bangladesch. Dhaka. Werktags. Datum unbekannt. 15:36 Uhr. Irgendwo im Umkreis des Zentrums in einer mehrstöckigen Fabrikhalle, die Textilkleidung herstellt.

Megla befindet sich im dritten Stock des Gebäudes, das nach seinem äußeren Erscheinungsbild kahl, grau und von Kälte durchdrungen einen charakterlosen Eindruck macht, wobei die Architektonik desselben marode, bisweilen instabil wirkt. Die Etage hat wenig Fenster. Einige von ihnen sind nach außen hin vergittert. Ansonsten hängen zwei Lampen an der Decke, die unnatürliches, grelles Licht abwerfen, das die Augen mehr belastet als es ihnen das Sehen ermöglicht. Ein latentes Getöse ist in der Halle anwesend und legt einen stresserzeugenden Druck auf die Ohren. Alles Menschliche ist schweigsam und stumm und mit ganzer Aufmerksamkeit dem Gegenstand seiner Arbeit gewidmet: der Stickerei von Emblems, Symbolen, Bildern und dergleichen auf Pullover. Außerdem wird jeder versuchte Akt der Sprache durch einen umhergehenden, mit grimmigem Gesichtsausdruck abschreckenden Vorarbeiter, der einen dichten Schnurrbart hat, gemaßregelt und unterbunden. Auch der blühendsten Phantasie würde es versagt bleiben, auf das selbige Gesicht ein zartes, sanftes, gutmütiges Lächeln zu sehen oder für einen Augenblick zu erhaschen. Es ist durch und durch autoritär – vorschriftsmäßig. Die Luft riecht schmutzig und verbraucht. Sie schwebt aufgedunsen und schwerfällig durch die aneinander gedrängten Reihen der Arbeitsplätze, aber enthält noch das Minimum an Sauerstoff, was das Herz zum Schlagen braucht, damit der Körper funktioniert.

Inmitten zahlreicher, leicht nach vorne gebeugter Oberkörper, sitzt Megla. Sie ist 11 Jahre alt und die Jüngste unter ihren vier Geschwistern, die sie nicht oft sieht. Manchmal sind ihr ihre Geschwister befremdlich, sodass sie sich oft fragt, ob sie sie über den Namen und einigen Zänkereien hinaus überhaupt kennt. Sie würde gerne mit ihnen lachen, spielen und albern, doch weder ihr ist diese Muße noch ihren Geschwistern die Freiheit vergönnt. Ihre drei Brüder arbeiten beim Steinbruch. Ihre Schwester macht dasselbe wie sie: Sticken – jedoch in einer anderen Textilfabrik. Megla hat früh gelernt Verantwortung zu übernehmen. Als sie 5 Jahre alt war, ist ihr Vater gestorben, den sie als einen ehrlichen, starken und arbeitstätigen Vater in ihren Erinnerungen behalten hat. Im Grunde genommen ist ihr ihr Vater ein Held und Vorbild. Sie verehrt ihn. Seither, als sie 6 Jahre alt wurde, musste sie arbeiten lernen und gehen, auch wenn ihr manchmal der ohnehin geringe Lohn vorenthalten wurde; manchmal auch nicht ausgezahlt wurde.

Die Einkommensquelle ist unerlässlich. Nachdem sich ihre Mutter empfindlich am Arm auf Plantagearbeiten verletzt hatte, ist sie arbeitsunfähig geworden. Megla stickt seitdem aus Not wie Notwendigkeit. Sie wurde nicht gefragt. Alles wurde wie von selbst in die Wege geleitet. Ihr Wille hatte keine Rolle gespielt. Schließlich haben alle Hunger. Der Magen knurrt öfter als der Geist sinnreiche Gedanken ablässt. Alle Bedürfnisse und Träume, die über den Hunger hinausgehen, bleiben unerfüllt. Die Mittel sind unzureichend. Man muss Prioritäten setzen.

Dort sitzt Megla, in dem Fabrikraum auf der dritten Etage, in der zweiten Reihe auf Platz 18 neben weiteren Mädchen und Frauen. Hin und wieder wird sie von ihrem Vorarbeiter gelobt, weil sie ihre Arbeit gut macht und sehr fingerfertig ist. Dann gibt es ein anerkennendes, kurzes und festes Nicken. Das freut Megla. Sie hat nämlich kleine, zierliche Hände und ruhige, sichere Finger, denen es ein Leichtes ist mit einer feinen Nadel geschwind umzugehen. Die Stickerei ist ein Gewerbe, das viel Fingergeschick und Konzentration braucht, gerade weil sie eine minimalistische und monotone Arbeit ist. In solchen Dingen ist Megla besonders gut. Soweit ihre Erinnerungen reichen, hat sie vor ihrer Karriere gerne gebastelt und ihrer Mutter beim Falten von Kleidungsstücken geholfen.

Leider hat Megla keine wirklichen Freunde. Ihr kommt es auch nicht in den Sinn darüber zu klagen. Auch dazu fehlt ihr die Zeit. Wenn sie von der Arbeit, manchmal vor sich her murmelnd oder singend – denn Megla hat eine frohsinnige Natur – nach Hause kommt und gegessen hat, ist sie derart übermüdet, dass sie, trotzdem sie auf der Arbeit kaum gesprochen hat, es bevorzugt, alleine zu sein. Sie möchte sich dann gerne ausruhen. Das nimmt ihr niemand übel.

Zur Schule geht Megla schon lange nicht mehr, auch wenn sie die Schule einige Monate besuchen durfte. Zu ihrem Verdruss hat sie damals nicht Lesen und Schreiben lernen können. Sie ist Analphabetin. Dafür schämt sich Megla. Sie hatte jedoch bis vor kurzem eine sich anbahnende Freundschaft mit der 18 jährigen Dipa geschlossen, die ihr das Lesen und Schreiben beibringen wollte und die sie deswegen um so mehr mochte. Dipa litt aber zuletzt unter starken Durchfall, sodass Megla sie schon seit zwei Wochen nicht gesehen hatte. Auch darüber, und über den Befund der Dipa, hat sie wenig Zeit nachzudenken.

Megla sitzt, fast brav und andächtig, an ihrem Platz. Sie nimmt einen Pullover zur Hand und beginnt in einem geübten Tempo zu sticken. Es dauert nicht lange bis sie fertig ist. Sie hebt den Pullover vor ihre Augen, um die Richtigkeit ihrer Arbeit – sie muss nämlich auf den Bauch der Pullover ein Bild sticken – zu überprüfen. Das breite Grinsen eines zwinkernden Smileys erstreckt sich ihr entgegen. Sie nickt schüchtern, legt den Pullover in einen rechts neben ihr befindlichen Korb und greift nach dem Nächsten. Noch einige Stunden, dann darf sie nach Hause gehen und sich ausruhen.

Von Mesut Bayraktar und Kamil Tybel

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